Ameisen
Frustriert legte sie ihre Gitarre beiseite. “So wird das nichts“, murrte sie und verschränkte die Arme vor ihrer Brust, “Egal welche Melodie ich schreibe, irgendwer hat sie schon einmal benutzt. Ich will nicht zum Einheitsbrei gehören oder als Diebin abgestempelt werden. Wenn das so weitergeht, werde ich mich selbst verlieren, so wie viele andere vor mir. Der Hunger des Mobs nach Neuem laugt aus. Warum muss ich andere kopieren, wenn ich will, dass mehr als drei Leute hinhören?“
Sie stand auf und trat aus ihrem Büro hinaus, ins Wohnzimmer und starrte aus dem Fenster, um den Kopf freizukriegen. Sie lebte in einem kleinen Apartment in einem Hochhaus, alle Wohnungen hatten die gleiche Raumaufteilung, viele sogar die gleiche Möblierung. Ihr gefiel das nicht, doch mehr konnte sie sich im Moment nicht leisten, deshalb wohnte sie hier.
Auf der anderen Seite der Glasscheibe nistete ein Vogelpaar, in den oberen Ästen des Baumes vor dem Haus. Sie seufzte wehmütig. “Wäre ich bloß Untermieter bei einem Baum, da müsste ich mich nicht beschweren, dass alle Wohnungen gleich aussehen. Ich hasse diese Gleichförmigkeit, wie können Menschen nur so leben? Alles gleich, alles grau, alles langweilig und einheitlich.“
Ihre rechte Hand legte sie an das kühle Glas und sah in den wolkenverhangenen Himmel. “Hast du nicht auch genug davon, Himmel? Ich meine, du musst dir die Menschen ansehen, wie sie immer mehr ihre Individualität verlieren und langweilig werden. Warum machen alle das gleiche, mögen alle die gleichen Dinge, lachen alle über dieselben Witze und reden in derselben Tonlage? In welcher Hinsicht ist das Leben? Wenn das Leben genannt werden kann, hätten sie auch als Ameisen geboren werden können, Ameisen, die alle gleich und in Reih´ und Glied ordentlich hintereinander her krabbeln und arbeiten, arbeiten, arbeiten! So wie es alle anderen tun.“
Einige Sekunden schwieg sie, dann drehte sie sich um. “Ich verstehe. Vielleicht sollte ich nicht versuchen, Musik zu schreiben, die allen gefällt, sondern Musik, die mir gefällt. Es ist meine Musik. Kein Verlust meiner Identität, von diesen Leuten gibt es schon genug auf der Welt. Viel zu viele.“
Während sie in ihr Büro zurückkehrte, summte sie eine Melodie, die ihr just in dem Moment in den Sinn gekommen war. Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. “Perfekt“, murmelte sie, als sie nach ihrer Gitarre griff.
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