Der Blaue Sturmvon Marvin Solms
Ich höre die Uhr ticken, jede Sekunde zehn Hundertstel zu spät, nicht tic…tac, sondern tic…. tac, mittlerweile Jahre im Verzug, alle einhundertzwanzig Stunden für einen Moment im Takt, ein sinnloses Instrument der Folter, jeder späte Schlag wie der Schlag eines Profiboxers auf mein Trommelfell – Kälte zieht durch das offene Fenster hinein und kriecht in alle Ritzen, unter meine Kleider in alle Ritzen und heult dabei wie ein wuschiger Wolf bei Vollmond – die Feder kratzt übers Papier, hinterlässt schwarze Flecken, ohne Form, ohne Anmut, das Werk des Narren, der ich bin, verhöhnt mich, wie eine reudige Ratte im Rad ringe ich nach Luft, doch renne immer weiter – meine wunden Ohren vernehmen den vielstimmigen Choral des Alkoholismus auf den Straßen, Flaschen zerbersten in zweitausend Bruchstücke ihres Seins. Wie Träume.
Ich nehme den Hörer ab, drehe die Wählscheibe, lasse sie zurückschnellen, vor, zurück, vor, zurück, vor, zurück. Nach dem dritten, aber noch vor dem vierten, näher am dritten Klingeln beantwortet eine körperlos durch den Raum schwebende Stimme die telefonische Kontaktaufnahme.
„Hey.“
„Hey.“
„…“
„…“
„…“
„Ich komm vorbei.“
„Cool.“
„Ja.“
Mit einem ohrenbetäubenden Reißen wie von einem Blitzschlag wird die Verbindung getrennt. Die Feder hinters Ohr gesteckt, trete ich durch die Tür, durch den Flur, auf die Straßen der Stadt.
Ich höre Stille. Mache einen Schritt vor den nächsten Fuß. Auf den Straßen ist kein Mensch (ich zähle nicht, denn ich bin nicht ganz). Wie leergefegt. Schritte machen, ist anstrengend, nach zwei Blocks muss ich Luft holen, also gehe ich in den Supermarkt. Jetzt komme ich zu spät, scheiß drauf, der Drops ist gelutscht, life goes on (man verwendet die simple verb form, weil es ein Fakt ist, das Leben geht weiter, ob Du willst oder nicht! ). Nach dem Supermarkt ist es nicht mehr weit, nur der Straße folgen, bis ich am richtigen Haus vorbei bin, weil ich jedes Mal die Hausnummer vergesse, also zurückgehen und an jedem Haus die Klingelschilder checken. Richtiges Haus gefunden, Klingel betätigt, rein da.
Sie machte die Tür auf, sie war so jemand, der bloß die Tür aufmachen musste, und man wünschte sich, man wäre die Tür.
„Hey.“
Sie modifizierte den Luftstrom in ihrem Kehlkopf, indem sie ihre Stimmlippen vibrieren ließ, ohne sie ganz zu schließen, um ein verhauchtes H zu erzeugen – zum Verrücktwerden.
„Hey.“
Ich sagte einfach nur Hey. Wir setzten uns in ihren spektakulär unterheizten Kochraum, um unsere hämoglobinen Lebenssäfte abzukühlen und unsere Sixpacks durch wiederholte Bauchmuskelkontraktion zu stählern. Es war so gut, zu spüren, woraus wir bestanden. Während wir so dasaßen und saßen, drehte sie sich immer wieder um, um die Chronometer an der Wand hinter ihr zu betrachten. Eines zeigte an, dass es für uns eigentlich Zeit zum Schlafen war, das andere etwas anderes und ihre Sekundenzeiger tickten, immer abwechselnd, nie gleichzeitig. Der Rhythmus lud zum Salsa-Tanzen ein.
Immer, wenn ihre Augen nicht auf die Chronometer, sondern auf mich gerichtet waren, rätselte ich über ihre Farbe. Sie hatten etwas von Violett, durch ein ungeputztes Fenster betrachtet, mit einem Hauch von Rattengrau, als hätte man einen Hurricane hineingemischt, so intensiv, nicht einmal des Krieges schwere Feuer hätten diesen Blick trüben können. Vielleicht waren sie aber auch einfach nur Blau.
Ich beschloss, zu sprechen. Genug gewartet.
„Weißt du“, begann ich meinen äußeren Monolog, „mir gefällt die Vorstellung von Liebe als dieses mysteriöse Ding, an dessen Beschreibung man sich versuchen, aber nur scheitern kann. Ich meine, Liebe entsteht über einen langen, undefinierbaren Zeitraum und irgendwann passiert irgendetwas völlig Willkürliches. Wie ein Wort, das sie auf eine einzigartige Weise ausspricht, die niemand nachahmen kann, oder die Art, wie sie ihren Kopf zurückwirft und ihre Haare wieder richten muss, wenn sie wirklich herzhaft lacht, oder wenn ihr irgendwo reinkommt, nachdem ihr durch den Regen gerannt seid, und sie dich einfach nur anlächelt, weil ihr gerade eine verdammte Flut überlebt habt und BAM!
Von einem Moment zum anderen realisierst du, dass du sie liebst und deine Welt zerbirst in zweitausend Bruchstücke ihrer Selbst, weil du nicht weißt, warum, aber es sich so gut anfühlt. Weißt du, was ich meine? !“
„Yeah.“
Und da war sie – die verdammte Flut.
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