Die Möwe und das Meer
Ich sitz auf meiner kleinen Insel, auf meinem roten Turm, der nachts so hell leuchtet wie ein Stern und schaue auf das Meer. Es schäumt, es spritzt, es glänzt, es glitzert und das in tausend Farben. So weit das Auge reicht nur Wasser, endlos erstreckt es sich zum Horizont. Dort geht die Sonne unter, dort küssen sich der Himmel und das Meer, am Ende dieser Welt. Dort wartet etwas auf mich, ich weiß es ganz genau, also heb ich ab, mach mich auf.
Unter mir, ein Ball, es wird getanzt, der Ball der Gezeiten, Ebbe und Flut im ewigen Ballett. Es schäumt, es spritzt, es glänzt und es glitzert. Ich lande mitten im Fest. Wellen wogen um mich, wir tanzen, tanzen immer schneller, sie mit Kronen golden von der Abendsonne und ich im weißen Kleid.
Irgendwann, da muss ich weiterfliegen, diesmal nicht allein. Über mir die andren Möwen, sich laut kreischend in den Sturzflug stürzend. Unter mir silbrig glänzend Fische, sich lautlos zu den Booten schlängelnd und ein Wald aus weißen Segeln, fröhlich auf den Wellen wippend. Wir allen jagen zu aufs selbe Ziel, den Horizont, das Ende dieser Welt.
Statt der Sonne leuchten mir nun Mond und Sterne. Ein Sturm kommt auf, Wind streicht sanft um meine Flügel, bis er an meinem ganzen Körper zerrt. Das samtene Schwarz in dem friedlich Mond und Sterne eingebettet lagen, steht nun in hellen Flammen. Unter mir, da tobt ein Kampf, die Wellen, groß und mächtig, verschlucken erbarmungslos die Tropfen, die der Donner auf sie niederpeitscht. Neben mir, eine Insel, eine sichre Festung in dem Sturm. Ich sollte landen, warten, bis es vorüber ist, doch ich kann nicht, muss weiter. Ein Windstoß fegt mich aus Lüften, geradewegs hinein ins aufgebrachte Meer. Ich will weiter, bis zum Horizont. Eine Welle zieht mich in ihren harten Griff, das Wasser schließt sich über mir, ich seh den Himmel nicht, will rufen: „Ich muss wissen was dahinter ist, hinterm Ende dieser Welt!“ Doch das Wasser ist schon überall.
Ich bin auf einem Strand, die Sonne scheint, um mich herum zerstörte Boote, nasser Sand. Wie ich hierhergekommen bin, weiß ich nicht mehr, nur dass ich weiter muss. Also lass ich die Festung hinter mir und flieg geradewegs ins Ungewisse, ans Ende dieser Welt.
Tage, Wochen, weiß nicht, wie lange ich schon fliege, bin müde, hab keine Ahnung wo ich bin. Egal, was ich auch tue, mal flieg ich schneller, mal flieg ich länger, der Horizont rückt kein Stück näher. Langsam frag ich mich, ob diese Welt überhaupt ein Ende hat. Doch da seh ich am düstren Horizont ein Fleckchen Land. Das muss es sein, das Ende dieser Welt! Die Müdigkeit vergessen, steig ich tiefer, jage auf die Insel zu, presche durch die Dunkelheit, doch plötzlich geht ein Stern vor mir auf.
Es ist das Licht meines alten Leuchtturms, das meine Augen fast erblinden lässt. Genau wie die Erkenntnis, dass die Welt kein Ende hat. Der Horizont, der sich vor mir erstreckt, ist ein unendliches Band, es geht immer weiter, ohne Ende, nur am Anfang kann man wieder landen.
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