Dunkler Tunnel
Sie fragten mich immer, diese Stimmen.
„Warum hast du es nicht beendet?“
„Warum hattest du nicht genug Mut?“
„Warum bist du so schwach?“
„Es ist deine schuld!“ So oft versucht und immer wieder gescheitert.
Ich bemühte mich jeden weiteren Tag sie zu ignorieren, auszublenden und sie zu vergessen. Doch je länger ich einen Teil meiner Selbst verleugnete, desto lauter wurden die Stimmen.
Dann versteckte ich mich hinter Mauern aus Kälte und Hass. Kälte gegenüber all jenen, die versuchten, zu mir durchzudringen und vor allem Hass auf mich selbst. Und während all die Last, die ich mir selbst jeden Tag aufbürdete, auf meine Schultern drückte, wartete ich hinter meinen Mauern, wartete auf jenes Ende, jenes Licht, welches jedes Lebewesen am Ende eines langen, dunklen Tunnels vermuten und erhoffen würde.
Doch mein Tunnel verlief nicht wie die meisten gerade. Mit jedem Schritt, den ich in seinem Inneren wagte, führte er mich weiter in den Untergrund, weiter hinab und weg von dem Licht und der Hoffnung, an die ich mich so sehnlichst klammerte.
So lange tolerierte ich diese Stimmen schon. Sie begleiteten mein Leben, meinen Alltag und auch meinen Schlaf. Ich blieb stumm, wann auch immer ich sie hörte und versuchte, ihnen keinerlei Aufmerksamkeit zu schenken.
Und nun stehe ich in meinem Zimmer vor meinem Spiegel und betrachte die Hülle, die aus mir geworden zu sein scheint. Die dünne Figur, welche auf meinen mangelnden Appetit schließen lässt, die dunklen Augenringe, die ich meinem Mangel an Schlaf zu verdanken habe und der wässrige Schleier, der sich wie ein Netz aller schlechten Erinnerungen erneut über meine Augen gelegt hat.
Und in mir bildet sich ein Gefühl. Ein Gefühl, welches mit einem Mal alle anderen überdeckt. Und ich höre mich selbst schreien. Ich schreie meinem Spiegelbild mitten ins Gesicht, durch das Glas hindurch und den Stimmen entgegen. Sie sollen leise sein. Aufhören, mich von innen zu zerstören. Mich endlich in Ruhe lassen.
„Ich bin nicht schwach!“, schrie ich. Wenn ich mein Leben noch nicht wie ein schlechtes Buch mitten in der Geschichte beendet habe, beweist das doch genau das Gegenteil. Das macht mich umso stärker! „Ja, ich bin stark.“, erkläre ich etwas ruhiger meinem Ebenbild. Endlich erkenne ich mich selbst darin. „Stark, weil ich leben möchte, obwohl der Tunnel kein Ende zu nehmen scheint und Hass und Schmerz nie ganz verschwinden werden. Ich bin stark, weil ich nicht mehr den Weg, den mir mein Tunnel vorgibt, gehen, sondern mich freigraben möchte. Ich bin stark, so stark, weil ich endlich meinen eigenen Wert kenne.“
Und mit einem Mal verstummen die Stimmen.
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