EinBlick
Mitten in der Nacht wache ich schwer atmend auf. Das Erste, was ich sehe, sind zwei rote Punkte, die mich von der anderen Seite des Zimmers bedrohlich anfunkeln. Ein Traum? Zu realistisch. Eine Spiegelung? Von was?
Die Augen – dafür halte ich die beiden Punkte – kommen näher, langsam, schleichend.
„… genug?“, höre ich ein leises, verzerrtes Lispeln.
Ich antworte nicht, sitze aufrecht in meinem Bett, beobachte das Ding, das sich gerade zu meinen Füßen setzt.
„Ist das genug?“, wiederholt die Stimme knurrend.
„Was genau?“, frage ich vorsichtig zurück.
„Alles.“, antwortet das Ding, und ich sehe Zähne aufblitzen. „Dein Leben. Dein Erfolg. Deine Macht.“
„Uhm.“, erwidere ich, wenig intelligent. „Ich denke, schon?“
„NEIN!“, kreischt das Viech plötzlich und springt auf meinem Bett auf und ab. „Was habt Ihr Menschen nur? ! WAS? ! Wieso hängt ihr an Eurer erbärmlichen Existenz? !“
Ich schrecke weiter zurück. Was zur Hölle macht dieses Ding da? !
Als hätte es meine Gedanken gelesen, hört es auf zu toben und scheint mich anzugrinsen.
„Ein Vorschlag.“, meint das Etwas vor mir gönnerhaft. „Ich zeige Dir Deine Zukunft, jetzt. Von morgen an bis zu Deinem schmerzhaften Tod. Wenn Du danach nicht mehr leben willst – Ich erfülle gerne solche Wünsche.“ Es grinst weiter.
„Und wenn ich das Gesehene trotzdem erleben will?“, hake ich nach. „Gehst Du dann?“
„Vielleicht.“, höre ich, und das Dunkle um mich herum beginnt sich zu drehen.
Ich sehe mich, in wenigen Jahren, mit bestandenem Schulabschluss. Dann während dem Studium. Ich werde kein Rockstar, keine Schauspielerin, keine Berühmtheit. Ich heirate, kriege zwei Kinder, und sobald sie eingeschult sind, gehe ich wieder Vollzeit arbeiten. Ich rackere mich ab bis ich 70 bin, dann geh ich in den wohlverdienten Ruhestand, in dem ich an der Armutsgrenze lebe. Und irgendwann sterbe ich unter Schmerzen in einem Krankenhaus-Bett.
Die roten Augen glühen. „Und? Deine Wahl? Leben oder sterben?“
Ich überlege nicht lange. „Leben.“
Das Ding verkrampft sich. „WAS? !“
„Hast Du nicht ihr Lächeln gesehen?“, frage ich verträumt und erinnere mich an meinen zukünftigen 90. Geburtstag – den letzten, den ich mit meiner Familie feiern würde.
„Aber – Das ist ALLES! Sonst ist da NICHTS, das die Schmerzen wert wäre!“
Plötzlich tut mir das Wesen in seiner Verbissenheit fast leid.
„Mir ist das genug.“, sage ich, drehe mich um und schlafe ein.
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