Einsame Winter
Wien, 27. November 2018
Liebe Generalin Heuschrecke,
weißt du noch damals, als wir zehn Jahre alt waren? Es war Ende November, die letzten Blätter waren heruntergefallen von den Bäumen und die sonst prachtvollen rotbraunen Baumkronen lagen jetzt kahl und fast schon schamhaft nackt da. Du warst damals so traurig und wütend darüber, dass du tagelang dein Haus nicht verlassen wolltest. „Ich hasse den Winter“, hattest du gesagt, „ich hasse es, wie er den Bäumen die Kraft raubt und sie dazu zwingt, ihre wunderschönen Blätter abzuwerfen.“ Selbst die Schneemänner, die ich dir zu Ehren gebaut hatte, hatten dir kein Lächeln ins Gesicht zaubern können. Es gab keine schlimmere Jahreszeit für dich als den Winter. Winter, das war endlose Dunkelheit und Kälte, wenn die Natur gezwungen wird, sich zur Ruhe zu setzten.
Hasst du mich mittlerweile genauso wie den Winter, vielleicht sogar noch mehr? Hasst du mich, weil ich dich verlassen habe, wie die Blätter ihre Bäume Ende November? Noch lange nachdem mein Umzug in eine andere Stadt, mein persönlicher Winter, uns auseinandergetrieben hatte, habe ich mich jede Nacht in den Schlaf geweint, meine Einsamkeit hat mich innerlich zerfressen. Meine Sehnsucht nach dir hat mich wahnsinnig gemacht und mir jede Minute, die ich ohne dich verbracht habe, den Atem geraubt. Jede Nacht lag ich ruhelos in meinem Bett und habe an all die schönen Erinnerungen zurückgedacht, die wir zusammen geschaffen hatten und die für mich meine ganze Welt waren. Nur in solchen Momenten verspürte ich sowas wie Seelenfrieden, ein Stückchen Seelenfrieden, den mir niemand nehmen konnte. In meiner neuen Schule hatte ich nie Anschluss gefunden, den egal wie freundlich meine Mitschüler*innen auch waren, sie waren nicht du. Sogar in meinen Träumen gab es nur dich. Es ist kein einziger Tag vergangen, an dem ich dich nicht vermisst habe.
Aber nach jedem noch so ewig langem Winter, kommt irgendwann der langersehnte Frühling zurück, der Leben und Freude mit sich bringt und die Einsamkeit verdrängt. Wenn auf den kahlen und trostlosen Bäumen endlich wieder Knospen sprießen, die zu wunderschönen Blättern und Blüten und majestätischen Früchten heranwachsen werden.
Und genau wie die Bäume im Frühjahr neu aufblühen, so wird es unsere Freundschaft hoffentlich auch, wenn wir uns wiedersehen. Denn unser gemeinsamer Weg hat, zumindest für mich, noch kein Ende.
Wir sehen uns im Frühling, wenn die Blätter wieder da sind!
In Liebe
Deine Co-Kapitänin Bohnenstange
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