liebevoll
Ich sitze auf einem Stuhl neben einem höhenverstellbaren Bett. „Hallo, Oma.“ Das Bett hat verschiedene Einstellungen – Liegen, Halbliegen und Sitzen. So genau durchschaue ich das Gerät nicht.
»Hallo, Mama. Schau, ich habe dir heute wieder deine Enkelin mitgebracht. « Meine Mutter hat die Fernbedienung durchschaut. So scheint es mir. Sie drückt Tasten und die ältere Dame, die tief in ihrem Kissen liegt, als wolle das Kissen sie näher bei sich haben, setzt sich zusammen mit der Lehne des Bettes auf. Ihre Hände ruhen auf dem Rand der Decke. Auf einer Kommode stehen Bilder meiner Eltern, meiner Geschwister und mir, meiner Mutter und ihrem Bruder, daneben reihen sich Bücher – Wiener und österreichische Alltagsgeschichten, humoristische Romane. Sie sind frei von Staub, gebraucht, aber schon Jahre ungelesen.
»Wie geht es dir, Oma? «, frage ich. Meine Mutter setzt sich zu ihr ans Bett. Großmutter schweigt. »Wie geht es dir? «, wiederholt meine Mutter die Frage lauter, als könne Lautstärke sie dort erreichen, wo Verständnis es nicht tut. »Oh, gut, gut«, sagt meine Oma erst nach einem Moment und verliert sich in wahllosen Silben. Fast dachte ich, dass sie heute gar nichts sagen würde. Meine Mutter nimmt den Pudding, der am Tisch neben ihr steht, fragt sie, ob sie etwas davon wolle.
Ich erzähle Oma von Verschiedenstem der letzten Woche. »Ich war mit meinen Freundinnen in Italien. Wir haben eine Rundreise gemacht. Mochtest du Italien, Oma? « »Ich beginne in zwei Wochen mein Studium und Mama wird in eine andere Abteilung befördert. Du kannst sehr stolz auf sie sein. « »Mein Bruder und seine Freundin waren im Zoo. Wir waren früher oft im Zoo. Wir haben uns immer ganz lange die Tiger angeschaut. Erinnerst du dich? «
Meine Mutter fügt immer wieder Sachen hinzu. „Bei dir ist ja jetzt schon länger her, das Studium hat dir aber früher viel Spaß gemacht, du hast oft davon gesprochen“, sagt meine Mutter. Unsere Gesprächsbeiträge umweben sich zu einem Gesprächsstrang, der zu Großmutter führt. Es sind Schiffsleinen, die wir ins Meer werfen. »Das ist gut. « »Ja, das ist schön. « »Ach, wirklich? «, sagt sie und es ist das, was mir schon die meiste Freude macht. »Die Tiger angeschaut…« „Oft davon gesprochen…« Wenn sie Sätze nachspricht und sie sich in unverständlichen Silben verliert – »Tata…ja…sa…«, nehmen wir es so hin.
Meine Mutter stellt die leere Puddingschüssel ab, tupft Oma den Mund ab und wirft die Küchenrolle im Mistkübel daneben weg. Sie nimmt dann ihre Hand. Nach einer Zeit ist es Zeit zu gehen. Ich gebe meiner Großmutter einen Kuss auf die Stirn und umarme sie, die alles gesagt hat. Sie hat unseren Gesprächsstrang erfasst – mit beiden Händen und hat versucht, sich daran hochzuziehen. Der Raum ist voll, Großmutter ist im ganzen Raum. Sie ist liebevoll, voller Liebe. Meine Erinnerungen treffen sie dort, wo sie sie nicht mehr versteht, ihr Verständnis zerbröselt unter dem Fuß der Zeit. »Ich hab dich lieb«, sage ich. Großmutter winkt ungelenk, als wir gehen.
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