Schneesturm
Alle Geschichten haben ein Ende, sie brauchen ein Ende. Ein gutes Ende, damit sie in Erinnerung bleiben, damit sie Wert haben. Meiner Meinung nach sind Geschichten ohne Ende nichts wert. Sie erklären sich nicht, sie machen keinen Sinn, sie sind unvollständig. Wer mag das schon sein? Wer mag, dass seine Geschichte so ist? Ohne Ende. Meine ist es. Und ich hasse es.
Heute Morgen hatte ich Hoffnung in mir. Wie jeden Morgen, und doch war ich naiv genug an sie zu glauben. Denn wir saßen immer noch in der kleinen Hütte in den Skanden fest, seit fast zwei Wochen. Wir waren fünf. Maria, meine Schwester. Sofie, meine einzige Freundin. Marta und Noah, die Hüttenbesitzer. Und ich. Die Lebensmittel wurden knapp. Das Feuerholz, das uns warm hielt auch. Und wir alle taten so, als wären wir zuversichtlich. Lächelten uns von Zeit zu Zeit an. Wir sprachen nicht viel, nur das Nötigste. Umso mehr starrten wir stundenlang aus dem Fenster, ins Nichts. Wo der Schneesturm wütete. Endlos. Wie er die knarrende Hütte niederdrückte. Gnadenlos die Kälte und Feuchtigkeit durch die Ritzen des Holzes trieb. Uns zittern ließ. Keiner erwähnte die schwindende Menge an Lebensmitteln, die uns blieb, und doch dachte jeder darüber nach. Ich wusste es, ich sah es in ihren Augen. Sah das Misstrauen, das von Tag zu Tag größer wurde. Wir alle waren auf der Hut, stets mit einem Auge wachend, die anderen im Blick habend. Keiner wagte es sich zu lang zu entfernen. Denn wir alle saßen im selben Boot. Wir alle sorgten uns. Sorgten uns um unser Leben. Keiner sprach es aus, und doch zerfraß es uns von innen.
Ich dachte, das wäre das Ende gewesen, von meiner Geschichte. Kein gutes, aber zumindest vollständig, komplett, abgeschlossen, vollendet. Doch war ich naiv.
Denn ich kämpfte. Kämpfte immer noch. Wir alle kämpften. Gegen den Sturm. Gegen den Wind. Wir bahnten uns mühsam einen Weg durch den metertiefen Schnee. Kamen kaum voran. Warum hatte ich nicht aufgegeben? Ich wünschte ich hätte aufgegeben. Der Wind peitschte eisig in unsere Gesichter. Rufe gingen unter, im Rauschen des Schneesturms, im Nichts. Und dann war da nur noch die Leere. Und die Kälte. Es war so so kalt.
Später fragte ich nach Maria, nach Sofie. Nach Noah und Marta. Keiner hatte etwas gesehen oder gehört. Sie sagten, ich wäre allein gewesen. Ich versuchte, den Einheimischen die Hütte zu beschreiben. Keiner kannte sie. Keiner kannte ihre Besitzer. Doch ich war dort gewesen. Ich hatte dort gelebt. Es ergab keinen Sinn. Ich war nicht mehr vollständig, sie war nicht mehr vollständig, meine Geschichte.
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