Splitternder Stern
Wie immer, wenn Amira den Raum betraht, wurde sie von einer tiefen Erfurcht erfüllt. Die Luft schien förmlich zu vibrieren. Im Zentrum pulsierte die geballte Macht der Ewigkeit. Ein Herz, dass wohl seit Anbeginn der Zeit schlug. Mit verbundenen Augen ließ sie sich von dem Ruf leiten, der sie zur Quelle von Schrecken und Herrlichkeit zog, wie eine Motte zum Licht. Sie brauchte ihre Augen nicht, um zu wissen, dass vor ihr der wispernde Stern, der Bewahrer aller Schätze des Geistes und oberster Richter des Reiches Xyris aufragte. Seine imposante Gestalt konnte sie sich nur vorstellen. Die Erinnerung an die sich kunstvoll windenden Rillen an der Oberfläche des Sternes und das Knistern auf ihrer Handfläche als sie ihn zum ersten Mal berührte würde sie nie vergessen. An dem Tag, an dem man sie in die Reihen der Priesterinnen aufgenommen hatte, war sie noch so von Begeisterung erfüllt gewesen, wild entschlossen dem Stern mit jeder Faser ihres Seins zu dienen und dem ganzen Reich Ruhm und Wohlstand zu bringen. Seit Generationen ergründeten die Priesterinnen die Geheimnisse des Sternes und enträtselten sein Flüstern. Als angesehene Beraterinnen des Kaisers verhalfen sie Xyris zum Aufstieg zur Weltmacht. Amira hatte unbedingt ein Teil davon sein wollen. So viel hatte sie aufgegeben, so viel Schweiß und Tränen vergossen, nur um in diesem Raum stehen zu dürfen. Doch heute war sie nicht hier um vor ihrem Gott zu kniehen, sondern um ihn zu vernichten. Sie umklammerte den schweren Griff des Hammers in ihrer Hand noch fester. Tränen füllten ihre Augen. Sie hatten versagt. Die Hauptstadt lag in Trümmern. Die kaiserliche Familie bestand nur mehr aus verrottenden Knochen. Der letzte Rest ihres Volkes hatte sich in den Katakomben unter dem Tempel verschanzt. Tag für Tag musste Amira zu sehen, wie die Menschen um sie herum qualvoll dahinvegetierten. Bald würde niemand mehr übrig sein, den die Invasoren niedermetzeln konnten. Dennoch verlangte der Stern weiter gnadenlos nach Opfern. In seinem Namen vergossen die Priesterinnen Flüsse von Blut, vergebens. Sie hatten die Worte des Sternes für ihre Zwecke missbraucht. Jetzt mussten sie den Preis dafür zahlen. Amira verdiente den schrecklichsten Tod, den man sterben konnte. Doch Xyris durfte nicht mit ihr untergehen. Ihr blieb keine andere Wahl. Sie hob den Hammer. Das betörende Wispern des Sternes hallte in ihren Ohren. Aber für Zweifel war es längst zu spät. Amira würde dieses letzte Opfer bringen und bereitwillig die Konsequenzen tragen. Man würde sie bis in alle Ewigkeit verfluchen. Doch Xyris würde überdauern. Mit einem Zischen sauste der Hammer auf die filigrane Oberfläche nieder. Der Stern zerbarst. Ein gleißender Blitz entfesselte sich.
Entsetzt starrte die Schar auf die Gestalt, in mitten der rauchenden Scherben. „Priesterin Amira was habt ihr getan! ?“ Langsam drehte sich die Gestalt zur Sprecherin um, die Lippen zu einem Grinsen verzerrt. „Ich fürchte, unsere geschätzte Amira weilt nicht mehr unter uns.“
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