Tränentruhe
Tränen und zusammen gepresste Lippen.
Beides sorgsam verborgen vor meinem Gegenüber. Ich schluckte, doch ich schaffte es kaum die Bewegung bewusst auszuführen. „Ich sehe dich gleich!“ stellte er nur trocken fest und war im nächsten Moment aus dem Zimmer getreten.
NICHT WEINEN brüllte ich mich selber an. Stattdessen stellte ich mir wie sooft meine Truhe vor. Meine wunderschöne Truhe, aus dunklem, fast schwarzem Holz. Mit Beschlägen aus Silber geformten Schlangen und Intarsien, die Wölfe darstellten.
Ich liebte Schlagen und Wölfe und ich liebte beide Tiere aus demselben Grund!
Weil sie nicht wie ich einfach die Augen zumachten und nickten, obwohl ich eigentlich schreien könnte und mich und meine Meinung mit Händen und Worten verteidigen wollte.
Nein ich liebte diese beiden Tiere, weil sie zubissen, sobald es genug war. Deswegen hatte ich sie für meine Truhe gewählt! Denn diese Beiden mussten das verteidigen, was ich immer versteckte, meine Gefühle, meine Tränen. Meine Truhe kannte niemand außer mir. Kein Schreiner hatte sich das einzigartige schwarze Holz mit den weißen Adern durch die Finger gleiten lassen, außer mir. Kein Silberschmied hatte mit seinem Hammer das auf der Erde unfindbare Mondsilber bearbeitet, außer mir. Ich war die Schöpferin dieser Truhe. Ich war Schreinerin und Schmiedin. Ich hatte das einzigartige Stück gefertigt und nur ich kannte die Fundstellen der Materialien, weil ich sie erschaffen hatte.
Einzig und allein, weil ich sie erfunden hatte, zu einem Zweck aus dem ich sie nie hätte erfinden dürfen.
Um meine Gefühle einzusperren wenn es genug war. Jedes Mal, wenn ich mich auf dem dünnen Seil befand, das meine Selbstbeherrschung war, und ich ins Schwanken geriet und fast abzustürzte, weil meine Tränen mich nach unten zogen, rief ich mir meine Truhe ins Gedächtnis und legte jedes einzelne Gefühl hineinen, das mich belastete. Gefühle und Bilder, die dazu gehörten. Ich schloss ganze Momente in der Truhe ein, weil ich mich beherrschen musste, damit niemand sah, wer ich bin. Ich schloss sie ein und befahl den Schlangen sich um die Wölfe zu winden, weil keines der Tiere los ließ, solange ich noch Arm rudernd auf dem Seil stand.
Wölfe und Schlangen taten so viel für mich, weil sie nicht nur einschlossen, was mich bedrückte, sondern meine Truhe und deren schweren Inhalt mit sich nahmen in den Schatten meines Bewusstseins, dorthin, wo ich Sorgen, Wut und Tränen vergessen würde und nichts weiter als Leere übrig blieb.
Weil sie wussten, wann genug war.
Immer
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