Zerbrochener Schein
Ihr Blick glitt über ihr Spiegelbild. Bauch einziehen, Luft anhalten. Nein, immer noch nicht genug. Würde es je genug sein? Nein. Nie gut genug.
Das kleine Mädchen hatte früher nie Wert auf ihre Figur gelegt. Warum sollte sie das auch? Sie war doch zufrieden. Bis eines Tages die Spöttereien und Schubser in die Seite begannen und sie sich sehnte, glücklich und schön wie Models in den Katalogen zu sein. Denn die waren doch perfekt und von aller Welt geliebt, nicht wahr? Alles was sie auch so verzweifelt wiederhaben wollte. Wann hatte sie es verloren? Es war wohl dann gewesen, als sie angefangen hatte, ihr eigenes Licht nicht mehr zu sehen.
Ein Blick auf die Waage. Nicht genug. Das kleine Mädchen wurde dünner und mit jedem Tag schwand ihr einzigartiges Wesen dahin. Das strahlende Lächeln, das von ihren Freunden so sehr geliebt wurde, war für immer gegangen. Ihr Humor, ihre Einfühlsamkeit und Hilfsbereitschaft, verwandelten sich zu hartem, undurchdringlichem Stein. Die sonst so funkelnden Augen wurden zu einer trüben Mauer, die niemand zu überwinden vermochte. Ein starrer, ausdruckloser Blick. Das kleine Mädchen nahm selbst das in Kauf, denn alles was sie wollte, war doch nur genug getan zu haben. Das hatten die Leute ihr schließlich befohlen, nicht wahr?
„Mach doch mehr Sport!“ „Iss weniger!“ „Du bist hässlich!“ „Du weißt schon, wie viel Kalorien das hat?“ „ . . . nicht genug!“
Knochen zeichneten sich auf ihrem Bauch ab, aber das kleine Mädchen konnte nicht aufhören, egal wie sehr sie es versuchte. Die so große Verzweiflung, aber auch Überzeugung, dass wenn sie nur etwas länger ausharren würde, sie endlich glücklich werden würde, stürzten sie in den Abgrund.
Sie erlaubte die Tränen nicht. Schöne Mädchen weinen nicht, Catherine. Covermädchen lassen keine Tränen zu. Sie lachen immer. Als das kleine Mädchen in den Spiegel sah, sah sie nicht mehr die lebensfrohe Person, die sie einmal, in einem früheren, soweit entfernten Leben, gewesen war. Nein, alles was sie sehen konnte, war jemand, der nicht genug getan hatte. Genug ist eben nie genug.
Der Junge strich ihr sanft über den Rücken, als sie leise wisperte:“Ich bin . . . und werde nie genug sein.“ Er blieb lange Zeit still und sie glaubte schon, er würde ihr Recht geben, als er mit fester Stimme widersprach:“Du brauchst nicht ein Ding an dir zu ändern. Nein, es ist die Welt, die ihr Herz ändern muss.“
Vielleicht haben wir sie alle blind gemacht.
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