Abandoned heißt verlassen
Wir sind nicht lange weg. In zwei, drei Tagen können wir wieder zurück. Das haben sie zumindest gedacht und alles an Ort und Stelle gelassen. Ein Dreirad steht noch immer vor dem Wohnhaus, als wäre sein Besitzer nur kurz pinkeln gegangen. Und hätte es dann für Jahre dort vergessen. Nicht weit davon liegt eine Puppe auf dem Boden. Unheimlich, wie sie jetzt aussieht. Verdreckt, einbeinig, armlos. Die Schlafaugen halb geschlossen. Ein bisschen, als wäre sie gestorben, während sie auf das Mädchen gewartet hat, das sie früher in ihren Armen gehalten hat. Aber es ist nie gekommen.
Unter seinen Schuhen knirschen Blätter, als er weitergeht. Hin zu den gelben Gondeln, die durch die Blätter der Bäume leuchten. Von weitem sehen sie frisch aus wie damals. Aber sie rosten. Kein Besucher hat je seinen Fuß in eine von ihnen gesetzt. Kein Kind hat je im Karussell vor Freude die Hände in die Luft geworfen oder gejauchzt, wenn zwei Wagen im Autodrom aneinanderstoßen. Vier Tage hätte es noch bis zur Eröffnung gedauert. Bevor es so weit gekommen ist, haben die Menschen fortgehen müssen.
Ihn umgibt das anhaltende Geräusch von Kameras. Es macht ihn aggressiv. Dies ist kein Ort für einen Wettbewerb, wer wohl das bessere Foto schießen könne. Sie alle würden unheimlich wirken. Ästhetisch vielleicht und ruhig, ja. Eventuell sogar auf eine groteske Art friedlich, aber vor allem unheimlich. Geister bewohnen jetzt diese Stadt. Nur sie nutzen die alten Häuser oder können die Kreidereste an einer Tafel in der Schule entziffern. Nur ihnen gehört das Spielzeug in den Kinderbetten des Spitals. Nur sie besuchen ein Kino ohne Leinwand, ein Schwimmbad ohne Wasser. In den Rahmen sind längst keine Fenster mehr. Skelette einstiger Möbel sind in sich zusammengebrochen. Die Natur erobert zurück, was ihr einst einmal gehört hat. Seit der Mensch sich selbst vertrieben hat, zerstört sie langsam, sehr langsam seine Spuren. Und wenn sie nur lang genug wartet, wird sie gewinnen.
Eine Stimme reißt ihn zurück: „Thank you for visiting one of Europe’s most famous abandoned places.“
Sie sind wieder vor dem Wohnhaus angelangt. Die Tour ist zu Ende. Sein Englisch ist nicht so gut. Aber er weiß, abandoned heißt verlassen. Er wirft einen letzten Blick auf das Dreirad seines Bruders. Damals hat er ihn an der Hand genommen und ist seinen Eltern aus der Stadt gefolgt.
Heute verlässt er Pripyat alleine.
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