Abgrund
Der Wind bläst mir um die Ohren, hüllt mich in seiner ganzen Kälte ein. Ich kann nicht einmal Luft holen. Vor Angst zitternd klammere ich mich an das Geländer. Mir ist als könnte ich hinter mir immer noch sein höhnisches Lachen hören.
„Du entkommst mir nicht“, scheint mir die Stimme zuzurufen. Ich wage einen Blick hinunter. In die Tiefe. Der Fluss unter mir gibt gluckernde Geräusche von sich. Gegen meinen Willen bahnt sich in meinem Kopf der Gedanke an, wie es wohl wäre, wenn er mich verschlingen, mich in Besitz nehmen und mir dann langsam den Atem aussaugen würde.
Vielleicht würde er mit mir Gnade zeigen, mir einen schnellen Tod gewähren. Ich stelle mir vor, wie meine Füße sich dem Abgrund nähern, bis die Zehenspitzen die Luft streicheln und ich mich nur noch vorkippen muss um den Todeskuss zu erhalten. Oder ich begegne ihm mit erhobenem Haupte, stolz und furchtlos. Nie wollte ich mich meinem Schicksal beugen, ohne zu kämpfen eine Klinge meine Kehle aufschlitzen lassen.
Mein Blick fällt auf das gegenüberliegende Ufer. So schön wirkt es dort, so friedlich. Doch die Brücke, die lässt mich schaudern. Sie scheint sich in der Dunkelheit zu verstecken, wie ein Monster, das auf seine Beute wartet. Soll ich es wagen? Mein Leben riskieren, um es zu retten?
Meine Fingerspitzen tasten sich an dem morschen Holz des Geländers vor, die Beine folgen bibbernd. Die Sprossen wackeln, scheinen sich selber nicht sicher zu sein wie lange sie noch ein Teil der Brücke sein werden. Ich fühle mich wie auf einem bockigen Pferd, ich finde keinen festen Untergrund, alles bewegt sich, ich werde panisch –
„Bitte helft mir doch!“, schreie ich innerlich, aber niemand hört mich. Die Fenster und Türen der Häuser sind verriegelt. Ich bin alleine. Ausgeliefert und schutzlos. Nur wenige Zentimeter der Erlösung entfernt. Ich habe Angst. Eine urtümliche, bis in die Mark gehende Angst. Sie treibt mir die Tränen in die Augen. „So alleine“, denke ich mir. „So werde ich also sterben.“
Auf einmal spüre ich ein Beben unter meinen Füßen. Wie ein aufgescheuchtes Kaninchen drehe ich mich um. Jemand hat die Brücke betreten. Ich entscheide mich. Meine Füße ertasten den nächsten Spalt. Im Fall höre ich einen Aufschrei, bis ich von Kälte umhüllt und hinweggetragen werde.
Wir danken unseren Unterstützern
Mit Unterstützung folgender Wiener Bezirke:
Für Sponsoringanfragen wenden Sie sich bitte an Margit Riepl unter margit.riepl@gmx.at
Wenn Sie "Texte. Preis für junge Literatur" unterstützen möchten, spenden Sie bitte auf folgendes Konto:
Literarische Bühnen Wien, Erste Bank IBAN: AT402011182818710800, SWIFT: GIBAATWWXXX
Ihre Spende ist steuerlich absetzbar!
Spendenbegünstigung gemäß § 4a Abs. 4 EStG 1988; Registrierungsnummer KK32646
Weitere Antworten rund um die Spendenabsetzbarkeit für Privatpersonen und Unternehmen
