Adaptionvon Dorothea Agnes Newerkla
Es ist viel zu früh, um nachzudenken. Ihr Kopf lehnt an meiner Schulter. „Ich bin müde“, sagt sie. „Dann schlaf“, sage ich. Außer uns sitzen vielleicht drei Leute im Wagon des ersten Zuges, in ein Buch vertieft, mit Kopfhörern oder schlafend. Das könnte ich sein, das könnten wir sein, wenn sie nicht so wach wäre. „Erzähl mir was?“, bittet sie.
„Es war einmal ein Mädchen mit blauem Blut und blauen Augen. Hauptsache gesund. Erst im Laufe des ersten Lebensjahres stellte sich heraus, ob sie die dunklen Augen ihrer Eltern geerbt hatte. Hatte sie. Doch ihr Blut blieb blau, bläuliche Adern wie bei allen, blaue Lippen wie bei Kälte.“
„Ruf bei Netflix an, die machen den nächsten Bestseller daraus“, lacht sie und verwebt ihre Finger mit den meinen. Wegen der frühen Uhrzeit werden wir nur von unserm Spiegelbild in der dunklen Fensterscheibe beobachtet. Ich sehe aus, als könnte ich noch Schlaf vertragen, finde ich. Weiter.
„Ihre Zunge war blau, sie biss darauf. Je weniger sie redete, desto besser. Lippenstift. Keiner sah sie, aber sie selbst nahm sich auffälliger wahr denn je. Spürte jede einzelne ihrer Bewegungen, als sie krampfhaft lächelnd versuchte, in Gedanken versunken zu wirken. Das Glas in ihrer Hand enthielt etwas Rotes und sie schwenkte es hin und her. Vielleicht würde es das Blut färben, wenn sie genug trank.“
Sie drückt meine Hand, fest. Es ist so ruhig in dem fast leeren Wagon, dass ich unweigerlich immer leiser werde. Fahrtgeräusche.
„Es waren zu viele Leute unterwegs, als dass sie auf alle achten konnte. Ungeschicktes Anstoßen, gemurmelte Entschuldigungen. Plötzlich schien jeder einen anderen Weg zu gehen. Bis sie gegen ein anderes Mädchen stolperte, das sagte, es sei farbenblind und noch viel mehr. Ihr Lächeln brachte sie zuerst aus dem Konzept und dann zum Lachen und so grinsten sie beide und die Leute blieben nicht stehen. Manche konnten es einfach, durchquerten eine Menschenmenge, stießen dabei an niemanden. Sie nahm ihre Hand und zog sie mit.“
„Beruht auf einer wahren Begebenheit“, flüstert sie zurück, unsere Hände ineinander verschränkt. Das erste Licht bricht durch die Fenster. Morgendämmerung.
„Das farbenblinde Mädchen mit dem schönsten Lächeln hatte gelogen: Sie kann Farbe sehen, gestand sie nervös. Aber sie mag blau. Also nicht nur blau. Auch ihre dunklen Augen, aber sie ist nicht gut mit so schönen Beschreibungen. Außerdem mag sie ihre Ehrlichkeit. Und ihre Figur in dem kurzen Sommerkleid. In allem andern natürlich auch, aber in dem Sommerkleid ganz besonders. Und das meiste von ihrem Musikgeschmack. Und ihre ansteckende Begeisterung für Abenteuer. Und sie mag ihre Gedanken spätnachts, wenn sie wahre Geschichten ausdenkt.“
„Weißt du, wie schwer es ist, ein gutes Liebesgeständnis zu machen? Ich dachte, ich werde entweder einen Lachanfall kriegen oder im Boden versinken.“ Sie hat ihren Kopf noch mehr gedreht und murmelt jetzt in den Stoff meines Oberteils. Ich lache. „Dein Shirt ist echt weich, weißt du das?“, sagt sie.
„Sie blickte danach nervös nach unten, unsicher, was sie noch sagen sollte. Doch das andere Mädchen strahlte. Sie legte ihren Kopf schräg und lehnt sich vorsichtig vor, sie auch. Die beiden küssen einander. Kein Lippenstift. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.“
„Das ist das Schönste, was du mir je erzählt hast“, urteilt sie. Dann entwindet sie mir ihre Hand um sich gerade aufzusetzen, sieht mich an und — „hast du dein Pyjama-Oberteil an?“ „Das ist ein T-Shirt“, verteidige ich mich. „Ja, das T-Shirt, das du zum Schlafen trägst!“ Sie steht kurz vor einem Lachanfall, doch dann sinkt ihr Kopf erneut auf meine Schulter „Es ist schon sehr bequem.“ Warm und schwer lehnt sie an mir. Ich bin müde.
Als sie mich sanft wachrüttelt, weil wir umsteigen müssen, ist es kurz vor Mittag und der Wagon bereits halb voll.
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