Allegro # 206
206. Ein Herzrasen im Takt. Das Metronom hämmert schneller als mein Atem. Ich lausche dem Ticken. Es ist fast schade, dass eine so verspielte und einzigartige Melodie mit den geschmackvollsten Verzierungen und ausgefallensten Tonwechseln von diesem Tempo übereingenommen wird. Dennoch platziere ich die Geige auf meiner Schulter. Setze den Bogen an. Ich spiele.
Das Ticken erinnert mich immer wieder daran, dass das Tempo nicht mir überlassen ist. Es hält mich an gewissen Stellen zurück wie eine Zügelhand, aber treibt mich an anderen wie ein Sporn nach vorne. Eine Hilfestellung, so nennt es mein Lehrer. Meines Achtens ist es eher ein Käfig, der mich festhält und es mir nicht gestattet meine volle Pracht zu entfalten. Jedes Ticken ist wie ein Schlag gegen die Eisenstäbe, die um mich herum ein Gitter bilden. Ich will ausbrechen, weit weg von diesem Ticken und diesen Schlägen, weit weg von diesem Käfig. Viertelnoten. Achtelnoten. Alles gleich. Alles gezählt. Das Ticken hält mich dort fest, jede Bewegung- im Käfig. Kein Atem, kein Schwingen- nur Zählwerte. Doch in mir drängt eine andere Melodie. Meine Finger wollen wirbeln, Töne spielen. Nicht im Käfig, nicht gezählt. Frei. Ich würde die Viertelnoten mit einem weit ausschwingenden Vibrato schmücken, meine Finger in den stürmischen Achteln über das Griffbrett toben lassen und den Bogen nicht in kurzen, abgehackten Strichen, sondern frei und ungebremst gleiten lassen- so würde ich das Musikstück zum Leben erwecken. In meinem ganz eigenen Ticken, in meinem ganz eigenen Tempo. Trotzdem halte ich mich an das Metronom, spiele gemessene Viertelnoten, gleichmäßige Achteln und einen kontinuierlichen Bogenstich. Den letzten Ton lasse ich noch einmal schön ausklingen, länger als es mir das Ticken eigentlich erlaubt.
Kaum ist der Klang verklungen, kribbelt es wieder in meinen Fingern. Ich erhebe erneut die Geige, aber diesmal ohne das strenge Ticken. Ich lasse den Bogen fließen und meine Finger toben, tanzen und wirbeln. Eine Melodie formt sich, meine Melodie formt sich. Das Tempo ist nicht länger ein Käfig, sondern ein Zusammenwirken aus Leidenschaft, Eleganz und Energie. Ich realisiere: Meine Musik beginnt dann, wenn man aufhört zu zählen.
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