Alles hat ein Ende! Ringe auch?
Alte Züge beobachtet eigentlich fast niemand, oder? Sie stehen ganz verlassen irgendwo herum, wo sie keinen stören. Selten werden sie weiterverwendet. Ist doch so, oder? Das denke ich zumindest. Und mit 15 Jahren sollte man doch schon so viel Ahnung vom Leben haben, dass man das richtig einschätzt. Allerdings stellen sich andere in meinem Alter bestimmt nicht solche Fragen.
Ich sitze inmitten eines verlassenen Zuggleises. Der Horizont ist mit Nebel bedeckt. Es wirkt, als hätte die Zugstrecke kein Ende. Mir ist kalt. Das kann daran liegen, dass es zirka sechs Uhr in der Früh ist oder daran, dass ich nur in einem Sommer-Basketballdress hier sitze, obwohl wir Winter haben. Oder an beidem. Meine abgetragenen Jordans liegen neben mir im Schnee. In meinen Ohren stecken In-Ear-Kopfhörer und in meiner Hosentasche habe ich den dazugehörigen MP3-Player meiner Mutter. Es läuft „In the End“ von Linkin Park. Abwesend drehe ich meinen Ring an meinem Finger hin und her. Ich habe ihn von meinem Opa. Auf dem Ring ist ein chinesisches Schriftzeichen. Es bedeutet Endlosigkeit, das Schriftzeichen. Meine Oma hat gesagt, ich habe ihn bekommen, weil nichts ein Ende hat. Ich habe ihnen nicht geglaubt. Ich glaube ihnen immer noch nicht. Ich glaube auch nicht, dass ich in der Zukunft daran glauben werde. Alles hat ein Ende, oder? Physikalisch gesehen, muss doch auch dieser Ring ein Ende haben. Und das Gleis führt bestimmt auch irgendwo hin. Das denke ich. Mein Opa hätte jetzt gesagt, ich soll nochmals darüber nachdenken. Und das tue ich jetzt auch, obwohl mein Opa es gerade eben nicht gesagt hat. Vielleicht muss man nur doll daran glauben. An ein Leben nach dem Tod und so einen Unsinn. Vielleicht haben die Dinge dann kein Ende. Aber ergibt das Leben dann überhaupt noch einen Sinn. Ich seufze und stehe langsam auf. Meine Hose ist komplett durchnässt und meine Füße sind eingefroren. Trotzdem beginne ich langsam, dem Gleis zu folgen. Mitten in den Nebel hinein. Je näher ich dem Nebel komme, desto weiter entfernt er sich von mir. Fasziniert greife ich wie in einem Bann zu meinem Ring. Meine Schritte werden immer schneller. Ich muss schon ewig laufen. Ich hatte die Zeit komplett verloren. Wenn dieses Gleis endlos ist und mein Ring endlos ist, Zeit ist dann doch auch endlos, oder? Und Licht! Begeisterung breitet sich in meinem Körper aus. Adrenalin schießt mir in meine Adern. Ich spüre, wie meine Zehen zu kribbeln beginnen. Kann es sein, dass manche Sachen kein Ende haben.
„Jack. Jack. Hey, Jack! Wach auf, der Lehrer kommt!“ Überrascht öffne ich meine Augen. „Alter, das war knapp!“, kichert mein Freund neben mir. Klasse? Lehrer? Wo ist die Zuggleise? Verwirrt beginne ich nachzudenken und wie immer, wenn ich das tue, an meinem Ring mit dem alten, chinesischen Schriftzeichen zu drehen.
Und ich sage euch eines, Leute. Zu viel Computer spielen ist ungesund. Halluziniere ich? Ich habe mir an dem Tag doch tatsächlich eingebildet, meinem Opa im Eck unseres Klassenzimmers zu sehen.
Wir danken unseren Unterstützern
Mit Unterstützung folgender Wiener Bezirke:
Für Sponsoringanfragen wenden Sie sich bitte an Margit Riepl unter margit.riepl@gmx.at
Wenn Sie "Texte. Preis für junge Literatur" unterstützen möchten, spenden Sie bitte auf folgendes Konto:
Literarische Bühnen Wien, Erste Bank IBAN: AT402011182818710800, SWIFT: GIBAATWWXXX