Alles ist fremd und neu und andersvon Fanny Koelbl
Sie erwachte aus einem langen, traumlosen Schlaf.
Sie lag auf dem Rücken und beobachtete aus halbgeschlossenen Lidern die langsam über die Wand gleitenden Schatten der Jalousie. Schließlich wandte sie sich gähnend zur Seite und griff nach ihrem I-Phone. Der Bildschirm blieb schwarz. Sie zog eine Grimasse, aber die Gesichtserkennung ihres Smartphones registrierte sie nicht. Auch Siri antwortete nicht, sprach nicht mehr mit ihr, war vielleicht böse, weil sie vergessen hatte, Siri über Nacht mit Strom zu versorgen. Im ganzen Haus reagierte keine der Lampen und Assistenzleuchten auf ihre Anweisungen. Die Sensoren verweigerten ihren Dienst. Die Kaffeemaschine hatte aufgehört zu brummen, der Kühlschrank zu surren, der Fernseher zu flimmern. Alle Monitore waren dunkel und die Stille war beängstigend. In der Nacht musste der Strom ausgefallen sein, möglicherweise wegen eines Feuers oder Sturms. Zuvor hatte alles vollautomatisch funktioniert, doch jetzt schien es, als wäre mit dem Strom zugleich auch die Lebensenergie aus dem Haus gewichen. Hier konnte niemand mehr leben, wurde ihr klar, hier konnte nichts gedeihen und blühen. Das Haus war ihr auf einmal fremd, der Zauber verflogen.
Sie packte ihren Rucksack und öffnete die Haustür. Heiße Luft schlug ihr entgegen. Vor ihr lag eine weite, bis an den Horizont reichende Steppenlandschaft. Sonst war da nicht viel, nur goldgelb schimmernde, sandige Erde und die Straße. Die eine Straße, die sich schnurgerade in der Ferne verlor. Der Asphalt flimmerte in der Sonne, am Straßenrand ragten braune Grasbüschel aus Rissen und Spalten. Dieser Straße musste sie folgen. Und so ging sie.
Schon nach einer Stunde gewöhnten sich ihre Augen an die Weite und an das grelle Licht, das beinahe senkrecht auf sie fiel. Schweiß rann von ihren Schläfen herab, durch ihre Schuhsolen spürte sie die bleierne Hitze des glühenden Asphalts. Ihre einzigen Wegbegleiter waren bunt gefleckte Eidechsen, die im Schatten der Steine neben ihr herliefen und, sobald sie ihnen den Kopf zuwandte, in einer Felsritze verschwanden. Einmal, als sie unter einem verdorrten Feuerbaum saß und gierig aus ihrer einzigen Wasserflasche trank, hörte sie ein leises Klappern und bemerkte aus den Augenwinkeln eine hoch aufgerichtete Schlange. Langsam, und ohne etwas anderes als ihre Hand zu bewegen, griff sie nach einem Stein, den sie auf das Tier schleuderte; und dann rannte sie los, so schnell sie konnte. Als die Nacht kam und die Sonne hinter dem Horizont verschwand, sank auch die Temperatur schlagartig und ein Frösteln ging durch ihren Körper, das von den böartig durch die Ebene fegenden Winden herrührte. Sie kauerte sich zwischen zwei niedrige Felsen, die noch die Wärme des Tages abstrahlten, schlang ihre Arme um die Beine und schlief zitternd und erschöpft endlich ein.
Am nächsten Morgen merkte sie, dass ihr Proviant sich dem Ende zuneigte und die Wasserflasche leer war. Von einem halbvertrockneten Strauch pflückte sie die wenigen kümmerlichen Beeren, Wasser leckte sie aus einer kleinen Mulde zwischen den Felsen. „Weiter, weitergehen, nicht aufhören“, dachte sie unentwegt. Eine kleine Ewigkeit trottete sie so dahin, setzte mechanisch einen Fuß vor den anderen – als sie plötzlich ein seltsames Funkeln und Blitzen fernab der Straße wahrnahm und es war ihr, als hörte sie Lachen und Singen. Sie blieb stehen und lauschte. Ja, da war es wieder, undeutlich, aber doch. Stimmen. Sie sprang von der Straße, und, so schnell es der sandig weiche Untergrund zuließ, lief sie in die Richtung, in der sie Wasser, Menschen, Rettung vermutete. Da sie den Blick meist gesenkt hielt, um nicht über Steine oder Wurzeln zu stolpern und sich nur hie und da an den blinkenden Reflexionen orientierte, bemerkte sie die andere Straße erst, als sie bereits einen Fuß daraufgesetzt hatte. Erstaunt blickte sie sich um. Auch diese Straße verlor sich in beiden Richtungen. Irgendwohin. Eine kleine Strecke entfernt lag, nun deutlich zu erkennen, eine alte, verwitterte Tankstelle mit weitem Vordach, deren einst grellbunter Anstrich noch zu erahnen war. Vor dem Tankstellencafe standen einige Pick-ups und nach draußen drangen laute Rufe und Lachen. Sie schlich näher und spähte durch die große Glasscheibe ins Innere.
Alles ist fremd und neu und anders. Sie holt tief Luft, öffnet die Tür und überschreitet die Schwelle. Eine Glocke bimmelt und alle Gesichter wenden sich ihr zu. Die Gespräche verstummen. Der große Ventilator wirbelt Kaffeeduft und Zigarettenqualm durch den Raum. An der Wand hinter der Bar flimmert ein Fernsehgerät, in dem ein Fußballspiel übertragen wird. „Wo bin ich hier bloß?“, denkt sie verwundert.
Der braungebrannte Mann hinter der Theke lächelt breit, dann sagt er: „Buenos dias, senorita.“
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