Alles nach Mitternacht ist Neuland für mich
23: 22
Kennst du das Gefühl, wenn du dasitzt und du merkst, wie dein Körper sich auf die Worte vorbereitet, die in den nächsten Sekunden dein Herz zerbrechen werden?
23: 38
Das Gefühl, wenn sich in dir alles zusammenzieht. Vielleicht um die Angriffsfläche zu minimieren. Vielleicht, weil man dann den Schmerz weniger fühlen kann, wenn alles verkrampft und angespannt ist. Natürlich ist das nur eine Illusion. Mir wird übel, vermutlich versucht mein Körper, jegliche Gefühle wie einen giftigen Krankheitserreger loszuwerden, bevor deine Worte wie eine Bombe einschlagen und mein Herz in tausend Stücke reißen werden. Mir wird heiß und kalt. Ich will schreien, aber auch nie mehr reden. Ich will dich nie wiedersehen und gleichzeitig nicht, dass du gehst. Ich will dir sagen, wie sehr ich dich hasse, aber gleichzeitig, wie sehr ich dich liebe.
23: 44
Der Körper und seine Abwehrmechanismen sind nur für Schmerz von außen ausgelegt. Der Schmerz in unserem Inneren trifft uns unverhohlen. Gegen ihn kennt unser Körper keinen Schutz. Der erste Urinstinkt: fliehen. Das war also der Versuch einer Flucht meines Körpers vor dem Schmerz. Wenn das nicht funktioniert, ist das nächste: Freeze. In der Natur stellen sich manche Tiere tot, bewegen sich nicht oder machen einen ewigen Schlaf, um dem Feind zu entkommen. Ich spüre, wie ich erstarre. Die Wörter prasseln wie Messerstiche auf mich ein, und ich bin unfähig, mich zu bewegen. Der dritte und letzte Urinstinkt: Kampf. Schreiend werfe ich, was mir von dir geblieben ist, auf den Boden. Es zerspringt.
23: 57
Der Alkohol ist bitter im Vergleich zu den salzigen Tränen zuvor. Mein Körper setzt auf: Kampf. Gegen mich selbst. Denn es ist meine Schuld. Hundert Dinge gehen mir durch den Kopf, die ich anders machen hätte sollen. Hundert Situationen, in denen ich vielleicht alles hätte ändern können. Hätte ich dir dieses eine letzte Mal doch gesagt, dass ich dich auch liebe.
23: 58
Seit du weg bist, kann ich nur auf die Uhr schauen. Die Minuten vergehen, die Stunden vergehen, und je mehr sich der Zeiger in Richtung Mitternacht bewegt, desto mehr Angst bekomme ich. So lange noch heute ist, ist der Tag, an dem ich noch mit dir war, nicht vorbei. Heute hast du mich noch geküsst. Heute hast du mir noch gesagt, dass du mich liebst. Aber um 0: 00 ist dieser Tag vorbei. Und dann wird der erste Tag ohne dich beginnen, und mit jedem weiteren wirst du immer mehr aus meinem Gedächtnis verschwinden. Die Zeit wird mir die Erinnerung an dich nehmen, neue Erinnerungen ohne dich werden entstehen. Ich werde neue Leute treffen, du wirst neue Leute treffen. Mit jedem Tag werden sich unsere Leben weiter und weiter voneinander entfernen. Wir werden uns weiter und weiter voneinander entfernen.
23: 59
Ich habe Angst vor Mitternacht, denn alles was danach kommt ist Neuland für mich. Ein Leben ohne dich ist Neuland für mich. Ein Leben mit nichts außer den Erinnerungen an dich ist Neuland für mich.
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