Als der Luchs kam.
Das erste Mal sah ich den Luchs im Winter.
Da draußen steht eine Katze, sagte ich. Die ist ganz schön groß.
Papa rannte zum Fenster. Nein, meinte er.
Das ist keine Katze. Das ist ein Luchs.
Damit fing alles an.
Mit der Katze, die keine war. Mit dem Luchs.
Und mit Papa.
Mit Papa, der Schafe hatte.
Mit Papa, der Angst um die Schafe hatte.
Mit Papa, der den Jäger anrief.
Der Luchs kam immer wieder.
Manchmal sah ich nur seine Pfotenabdrücke.
Ich lernte schnell sie von anderen zu unterscheiden.
Manchmal entdeckte ich nur Fellbüschel.
Ich wusste, dass sie vom Luchs waren.
Den Luchs selbst sah ich selten.
Aber es machte mich glücklich zu wissen, dass er da war.
Papa hasste den Luchs.
Papa hasste es, dass ich den Luchs mochte.
Papa hasste es, etwas zu hassen, das ich mochte.
Papa liebte seine Schafe.
Papa liebte das braune Schaf und die vier weißen Schafe.
Papa kam heim und ging in den Schafstall,
bis seine Hände dreckig waren und nach Schafwolle rochen und er lächelte.
Es gab niemanden, der ihm versprechen konnte,
dass der Luchs keine Schafe fressen würde.
Den Luchs zu beobachten wurde meine Beschäftigung.
Den Jäger anzurufen wurde Papas Beschäftigung.
Er griff oft zum Telefon.
Wir müssen den Luchs endlich erschießen.
Wir müssen schneller sein als der Luchs.
Bevor er die Schafe frisst.
Der Luchs muss leben, sagte der Jäger.
Irgendwann hob er nicht mehr ab, wenn Papa anrief.
Zu Weihnachten wünschte ich mir ein Fernglas.
Ich wollte den Luchs von Nahem sehen.
Ich bekam keines.
Zum Geburtstag wünschte ich mir ein Fernglas.
Ich bekam keines.
Ich verkaufte drei Bücher und zwei DVDS.
Sparte mein Taschengeld.
Schließlich kaufte ich mir selbst eines.
Es dauerte lange, bis ich den Luchs endlich mit dem Fernglas beobachten konnte.
Manchmal gab es Monate, da war er nicht in unseren Wäldern.
Er strich dann durchs Gebirge. Er irrte dann über weite Wiesen.
Ich sah ihn schließlich an einem Sonntag.
Auf seinen Ohren wuchsen wilde, schwarze Haarbüschel.
Seine Augen schimmerten graubraun.
Zumindest bildete ich mir das ein.
Sonderlich scharf war das Fernglas nicht.
Auf Papas Laptop entdeckte ich Werbung für Jagdgewehre.
Er würde dem Luchs nichts tun.
Er durfte dem Luchs nichts tun.
Aber: Verängstigte Menschen taten dumme Dinge.
Der Luchs riss
12 Ratten, 3 Wühlmäuse, 2 Fasane, 4 Hasen und 1 Reh.
Aber kein Schaf.
Papa ging trotzdem voller Sorgen schlafen,
wenn er meinte den Luchs schleichen zu hören.
Irgendwann, schwor er, irgendwann.
Du darfst dem Luchs nichts tun, sagte ich zu Papa.
Der Luchs darf meinen Schafen nichts tun, erwiderte Papa.
Ich muss sie beschützen.
Ich würde alles für sie tun.
Als ich noch keine Angst um den Luchs hatte,
da richtete ich mein Fernglas in den Wald.
Manchmal sah ich ihn.
Manchmal nicht.
Jetzt schaue ich in den Himmel.
Bei jeder Sternschnuppe wünsche ich mir,
dass der Luchs nicht mehr zu uns in den Wald zurückkehrt,
dass er im Gebirge bleibt,
dass er sich ein neues Zuhause sucht.
Weit weg von den Schafen.
Bei jeder Sternschnuppe wünsche ich mir,
dass ich Papa für immer in die Augen schauen kann.
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