Als der Mond vom Himmel fielvon Anna Richter
Wenn der Mondschein auf das kleine Dorf fällt, welches am Rande eines Waldes liegt, dann wird es ganz dunkel, überall. Niemand hört den Aufprall, wo es doch Nacht ist und alle schlafen. Alle, bis auf die Lichtfänger, die in ihren Baumhäusern auf genau jenen Moment warten. Jede Nacht sind sie wach und warten, warten auf den Schein des Mondes. Denn das Licht muss stets zum Mond zurückgebracht werden, wo es doch keineswegs unendlich ist. Außer in den finsteren Neumondnächten. In diesen Nächten und dem darauffolgenden Tag schlafen sogar die Lichtfänger und sammeln Energie für den nächsten Monat.
Doch diese Nacht ist Vollmond. Wenn man genau hinsieht, erkennt man, dass Mondlicht jeden Tag anders aussieht. Diese Nacht scheint es bläulicher als bisher. Mondlicht ist niemals purpurfarben. Die Lichtfänger hören einen dumpfen Aufschlag, lauter als bisher, und springen auf, lassen ihren Honigtee stehen und holen die Netze und Leiterwägen aus dem großem Schrank, der die Hälfte eines Hauses einnimmt. Sie klettern an den Bäumen hinunter und machen sich auf den Weg ins Dorf, denn meistens lässt sich der Mondschein genau hier finden. In dem kleinen Dorf gibt es keine Straßenlaternen, deswegen trägt jeder zweite Lichtfänger eine Fackel. Doch bald merken sie, dass ihr Licht nicht gebraucht wird. Bereits nach dem halben Weg werden sie vom Mondschein geblendet. Der Anführer bringt die Truppe zum Stehen und hält die Hand ans Ohr, er horcht hinaus in die Finsternis. Nach zwei Minuten, welche jedem Lichtfänger und jeder Lichtfängerin wie eine Ewigkeit vorkommen, geht er weiter, alle anderen hinterher. „Das Licht ist hell, heute Nacht!“, ruft der Anführer der Lichtfänger den Menschen hinter sich zu, „Seid auf der Hut, passt auf!“
Bald haben alle das Dorf erreicht und das Mondlicht leuchtet so hell, dass sich die ersten paar Reihen die Augen zuhalten. Es scheint verwunderlich, dass die Dorfbewohner immer noch schlafen, wo es doch beinahe taghell im kleinen Dorf ist. Doch die Menschen in diesem Ort sind Träumer, sie schlafen zu jeder Zeit und an jedem Ort. Die Schilder sind verblichen, die kleinen Buchstaben, die vor vielen Jahren darauf gepinselt wurden, verschwimmen vor jedem Auge, das sie erblickt. Die Spinatpflanzen vor der kleinen Bäckerei glitzern durch das Mondlicht beinahe noch mehr als am Tag. Wenn es dunkel ist, scheint es, als wäre das Dorf gemeinsam mit den Leuten in einem tiefen Schlaf versunken. Tagsüber hängt der Nebel tief über den kleinen Häusern, verhüllt die Fenster mit einem müden Schleier. Die Träumer, die jenen trägen Ort bewohnen, sind nur einen Tag im Monat wach. In der Neumondnacht, wenn alle Lichtfänger schlafen, öffnen die Menschen ihre Augen, Fenster und alle Läden. Sie tauschen sich aus, über ihre Träume und die Spinatpflanzen, die nur bei Mondlicht wachsen können. Am nächsten Tag gehen sie ihren Besorgungen nach, kaufen neue Kissen und Decken, denn wenn es dunkel wird und der Mond aufgeht, schlafen die Träumer wieder ein. Es braucht Mondlicht, damit man träumen kann. Nur wenige Träumer haben es bisher geschafft, länger als einen ganzen Tag ohne Schlaf auszukommen. Doch die meisten von ihnen versuchen es auch gar nicht, wo ihre Träume doch viel mehr beinhalten, als das Leben je bieten könnte.
All jene Träumer, für die Schlaf stets nichtig war, welche sich zum Mondschein gezogen fühlten, schlossen sich zusammen, bauten sich Häuser in den Bäumen des Waldes und nannten sich Lichtfänger. Zwischen Lichtfängern und Träumern steht Schlaf, Mondlicht und vielleicht ein wenig Missmut und Unverständnis. Obwohl es die Lichtfänger sind, die den Mondschein jede Nacht zurück in den Himmel bringen, damit die Träumer weiterschlafen können. Aber schon seit vielen Jahrtausende sind sich jene beiden Gruppen nicht mehr begegnet. Nur wenn sich die Lichtfänger auf den Weg machen, um das Mondlicht zurückzubringen, können sie im Vorübergehen einen Blick in einige der kleinen Häuser erhaschen. Doch in dieser Nacht sind alle Vorhänge zugezogen, ab und an schließt jemand lautstark ein Fenster, die Träumer sind aus ihrem Schlaf gerissen und aufgebracht über das ungewohnt helle Licht. Denn selbst die Strahlen der Sonne reichen bei weitem nicht an die Helligkeit in dieser Nacht.
Mit schnellen Schritten nähern sich die Lichtfänger dem Hauptplatz, um die Ursache des ungewöhnlich hellen Mondlichtes zu entdecken. Als sie dort ankommen, bleiben sie wie vom Donner gerührt stehen. Keiner wagt sich auch nur einen Mucks zu machen, selbst der Anführer scheint tief betroffen. „Was ist passiert?“, hört man nach einiger Zeit eine unsichere Stimme aus den hinteren Reihen. Die Menge teilt sich, tuschelnd, jüngere Lichtfänger stellen keine Fragen. Der Anführer dreht sich langsam um, sieht in das fragende Gesicht eines Jungen. „Heute Nacht“, antwortet er nach kurzem Überlegen, „Heute Nacht ist nicht nur der Mondschein auf dieses Dorf gefallen. In der heutigen Nacht ist der ganze Mond herabgestürzt.“ Die Stimmen im Hintergrund schwellen an, Furcht breitet sich aus, was soll nun geschehen? Das Licht zurückzubringen ist nicht der Rede wert, doch einen ganzen Himmelskörper? Mit einer Handbewegung bringt der Anführer die gesamte Gruppe zum Schweigen. „Wir können nichts tun“, fährt er fort, „außer zu hoffen, dass die Sterne kommen, um ihn zu holen.“ „Und wenn sie nicht kommen? Was, wenn der Mond zu lange hierbleibt, wenn sein Licht nun erlischt?“, erwidert der Junge, nun mit lauterer Stimme. „Wir können nichts tun.“, wiederholt der Anführer. Mit diesen Worten geht er durch die geteilte Menge, zurück Richtung Wald. Langsam folgen ihm auch alle anderen Lichtfänger und Lichtfängerinnen, sie werfen noch einen letzten Blick auf das gleißende Licht des Mondes, bevor sie gemeinsam hinter den Häuserreihen verschwinden.
Zurück bleibt der Junge, Jaro, der sich fragt, wieso keiner etwas gegen den gestürzten Mond unternimmt. Allerdings meint er, Angst in den Augen des Anführers gesehen zu haben, Furcht und Verwirrung. Jaro hingegen ist empört. Langsam nähert er sich der leuchtenden Kugel, die trotz ihrer beträchtlichen Größe kleiner als vermutet ist. Zögernd streckt er seine Hand aus, doch anstatt der erwarteten Hitze streicht nur ein kühler Luftzug seine Fingerspitzen.
Auf einmal zerreißt der laute Knall einer zufallenden Tür die Stille der Finsternis. Abrupt fährt Jaro herum, hektisch suchen seine Augen den Platz, die verlassenen Gassen ab, bis sein Blick auf ein Mädchen in einem angestrahlten Hauseingang fällt. Eine Träumerin. Zielstrebig geht sie auf Jaro zu, welcher wie angewurzelt stehen bleibt. „Wo sind die anderen Lichtfänger?“, fragt sie ihn. Ihre Stimme ist ruhig aber fest, Jaro zuckt zusammen. „Wer bist du und warum schläfst du nicht? !“, erwidert er die Frage. „Mahina.“ Sie seufzt. „Ich halte es für nutzlos, stets zu schlafen. Und wer bist du und was tust du hier allein?“ Kurz zögert Jaro, dann entschließt er sich, der Träumerin zu antworten. „Ich heiße Jaro. Bis eben waren noch alle anderen Lichtfänger da. Ich bin geblieben, weil –“ Mahina unterbricht ihn. „Ich habe euch von meinem Fenster aus beobachtet, ich habe alles mitbekommen. Warum tut euer Anführer denn nichts? Der Mond kann unmöglich auf der Erde bleiben!“ „Das weiß ich doch!“, entrüstet sich Jaro, „Aber was sollen wir denn tun? Das Licht zurückzubringen ist ein Leichtes, aber hier musst du doch einsehen, dass es hoffnungslos ist!“ „Du hast Angst.“, stellt Mahina fest. Sie sieht ihn nachdenklich an. „Ich bin mutig für zwei. Und jetzt komm, der Mond muss wieder nach oben!“ Sie steuert auf die Gasse zu, aus der sie gekommen ist. „Ich habe eine Idee.“
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