Als Opa Bekanntschaft mit Unmut, Mut und Übermut machte
„Na, Kinder“, sagte Opa, während er sich auf dem alten Lesesessel niederließ, „Ihr wollt wohl wieder eine Geschichte hören, was?“ Alle nickten wir eifrig und machten es uns auf dem abgewetzten Teppich bequem. Opa wusste nur zu gut, warum wir ihm jedes Mal freiwillig die Speisen vom Vortag in seine bescheidene Hütte brachten. „Mal sehen… Oh, da fällt mir schon was ein.“ Unser aller Blicke waren auf Opa gerichtet. Wir warteten gespannt. Schließlich begann er:
„Ich war noch sehr jung, jung und unternehmungslustig, obgleich ich nur wenig Geld besaß… Ich wollte hinaus in die Welt und träumte von Freiheit. Und scheinbar meinte der Herrgott es gut mit mir. Ich erbte ein stattliches Vermögen von einer Tante und hatte plötzlich so viele Möglichkeiten…“ Sein Blick wurde träumerisch. „Ich wusste nicht, was tun mit dem Geld. Da begegneten sie mir.“ Er machte eine Pause. „Wer?“, riefen wir im Chor, „Sag doch, wer?“ Er lächelte. „Drei edle Damen, Schwestern, wie ich erfuhr. Eine abweisend, mürrisch dreinblickend und mit nur wenig Schönheit gesegnet. Die anderen beiden hochgewachsene, bildhübsche Zwillinge, kaum zu unterscheiden. Nur war die eine in jeder Hinsicht ein bisschen perfekter als die andere, fast zu perfekt, um wahr zu sein.“ Vielleicht übertrieb er, immerhin wusste das ganze Dorf von seiner Schwäche für hübsche Frauen. Opa holte Luft. „Ihr wollt doch sicher etwas heißen Tee“, sagte er plötzlich, anstatt seine Erzählung fortzusetzen. In gemächlichem Tempo bewegte er sich auf die schäbige Kochnische zu. Hätte Opa in seiner Selbstüberschätzung nicht so viel Geld verspielt, müsste er jetzt nicht so heruntergekommen leben, beschwerte sich Mama oft. Während er einen Topf mit Wasser auf dem Herd erhitzte, fuhr Opa schließlich fort: „Als ich den Damen von meiner Lage erzählte, erhielt ich drei sehr unterschiedliche Ratschläge. Der Mürrischen schien jeder Gedanke an eine Investitionen des Geldes zu missfallen. Bei den Eltern lebt es sich gut, sagte sie. Ganz anders die erste Zwillingsschwester: Sie war überzeugt, die Überwindung meiner Unsicherheit und das Wagnis, ein eigenes Unternehmen zu gründen, würden schlussendlich belohnt.“ „Und die dritte Frau? Was war ihr Rat?“, wollte mein bester Freund wissen. „Sie riet mir, an der Börse zu spekulieren. Setze alles auf eine Karte und der Erfolg kommt von allein, waren ihre Worte.“ Mit Schwung zog er den Topf vom Herd. Kochendes Wasser schwappte über und hinterließ eine Brandblase auf Opas Hand. Leise fluchend reichte er uns die gefüllten Tassen. „Wie hast du dich entschieden, Opa?“, fragte ich. „So, wie es mir richtig schien und wie ich mich auch heute entscheiden würde, mein Junge“, erwiderte er. „Doch nun trinkt euren Tee und dann lauft heim zu euren Eltern.“
Auf dem Heimweg erblickte ich einen kleinen Jungen. Machtlos war er gegen die älteren Buben, die ihn umkreisten und bedrohten. Ob ich ihm helfen sollte, überlegte ich, als ich plötzlich drei Frauengestalten in der Ferne wahrnahm. Ich wusste, was zu tun war.
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