Also ist es aus?
“Es ist Zeit, loszulassen. ”
Ein Jahr, nachdem es passiert war, war es endlich Zeit, loszulassen. Endlich aufzuhören. Nicht aufzugeben, sondern aufzuhören. Es klang so ähnlich für ihn.
“Habe ich genug getan? ” Immer wieder drängte sich die Frage auf. Wenn er bei seiner blassen Mutter, die sich erschreckend wenig vom gelben Bettbezug abhob, saß, fragte er sich: habe ich genug getan? Wenn er seinen Vater weinen sah, fragte er sich: habe ich genug getan?
Er hätte sie öfter besuchen sollen. Er hätte mehr mit seinem Vater reden sollen. Er hätte sich weniger um sein eigenes Leben kümmern sollen, er hätte ihnen mehr helfen sollen. Was brachte es, sich das im Nachhinein zu denken?
Habe ich genug getan?
“Wenn Sie bitte hier unterschreiben…” Kurz überflog er das Dokument, auch wenn er wusste, worum es ging. Sie würden nichts mehr für sie tun, sondern sie hinübergleiten lassen. An einen besseren Ort, hatte sein Vater vorher mit Tränen in den Augen gesagt. Wieso freust du dich nicht, wenigstens für sie, wenn du es so sicher weißt?
Leise seufzte er und setzte seine Unterschrift darunter, ein Haken, dann ein Strich, schließlich sein Name, so unleserlich wie möglich. Die Ärztin lächelte ihn aufmunternd-tapfer, Marke“ich weiß wie du dich fühlst” an, ein Lächeln, das sie bestimmt jeden Tag lächelte, wenn sie Patienten sagte, dass es aus war oder bald aus sein würde. Sie hatte viel mit Schlaganfallpatienten zu tun.
Noch eine halbe Stunde blieb er bei seinen Eltern, doch es fiel ihm nichts mehr ein, was er sagen sollte. Falsch. Es fiel ihm viel ein, was er sagen könnte. Aber er sagte nichts davon. Eine Mauer war da. Eine Mauer, die sie im letzten Jahr, seit seine Mutter den Schlaganfall hatte, so erfolgreich abzutragen versucht hatten.
Habe ich genug getan?
Irgendwann überwand er sich und verabschiedete sich. Als er seiner Mutter, obwohl sie es nicht mitbekam, auf die Wange küsste, kam ihm der Gedanke, dass er sie vielleicht zum letzten Mal sah. Sie öffnete die Augen, schaute durch ihn hindurch wie durch einen Geist. Sie waren Geister für den jeweils anderen geworden.
Habe ich genug getan?
Als er wieder im Auto saß, beschloss er, nicht direkt nach Hause zu seiner Familie zu fahren, sondern noch einen Umweg zu machen. Denn seine Gedanken flogen ungeordnet durch seinen Kopf wie panische Vögel in einem Käfig. Wie eine eigene Person kam ihm jeder von ihnen vor, und sie kamen nicht hinaus, vor lauter Verzweiflung darüber flogen sie nur aneinander, gegeneinander, als würde der Sieger befreit. Befreit durch aussprechen.
Oder war Befreiung der Tod seiner Mutter? Noch so ein Gedanke, der eine eigene Person war. Jedenfalls nicht er selbst. Oder? Was war das für eine Seite von ihm selbst? Hatte er nicht immer gedacht, er kenne sich selbst so gut?
Fast unbewusst war er zu seinem Geburtshaus gefahren. Auf der Stiege vor der Haustür blieb er sitzen. Dort hatte seine Mutter ihn so oft gefunden, wenn sie ihn zum Essen geholt hatte.
Habe ich genug getan?
Er weint.
Habe ich genug getan?
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