Am Bellevue
Jüngst kommen oft diese schwarzen Lacklederstiefel. Oft sehe ich sie zwischen vier und sieben. Mein einziges Fenster reicht nur dreißig Zentimeter über den Asphalt, aber diese steile Aussicht ist ziemlich schön. Ansonsten ist es wie im Theater: Schuhe treten auf und ab. Echte Gesichter sieht man keine, aber gelegentlich feingezeichnete Knöchel oder Waden.
Manchmal halten die hohen Stiefel kurz auch an, drehen sich im Kreis und zertreten den Rest einer Tschik zu einer orange-weißen Quetschung. Meine Hand greift dann durch das Fenster auf die Straße, nimmt das Häufchen und entsorgt es in den Müll. Bei mir herrscht nämlich Ordnung.
Gerade warten viele auf den Bus. Nur über den tiefen Lacken vom Regenschauer heute Morgen herrscht noch freie Sicht. Jetzt rollen die Autos an. Der Nachmittagsverkehr und der Supersale im Einkaufszentrum locken sie auf die Straße. Große Räder, kleine Räder. Alle wollen einen Platz auf dem rauen Asphalt. Ich schaue ihnen dabei zu, wie sie sich die Leiber daran aufreiben und schlürfe später dann mit einem selbst gebastelten Strohhalm die Pfütze leer.
Überhaupt muss man hier unten schnell sein, die seltenen Gelegenheiten ergreifen. Zum Beispiel die offenen Schnürsenkel eines Dr. Martens. Geübt fasse ich unterhalb der Öffnung an und trenne den Schuh von der überflüssigen Schnürung. Ich habe für alles in meinem Besitz Verwendung, die Schnur wird die Reichweite meiner Angel vergrößern. Ich versuche, meine Lebenserhaltkosten an allen Ecken möglichst gering zu halten. Ich möchte etwas durch meine Sparsamkeit beitragen. Nicht jedoch dafür, dass andere mehr verbrauchen können, nein, ich mache das für den öffentlichen Aufwand an sich.
Übers Jahr sind meine Sonnenstunden kurz, die Schattentage lang. Licht gibt es insgesamt wenig hier unten, aber dafür muss ich keinen Rasen mähen. Ab Oktober sammle ich die Blätter vom Asphalt und stecke sie in meine Bücher. Ich nenne das Herbstzeremonie. Die Blätter werden stramm, die Buchseiten wellig. Meine Lieblingszeit ist sowieso der Herbst, nie gibt es so viele Modelle, die hier vorbeiziehen. Hohe Schuhe, dicke Schuhe, nasse Schuhe, pelzige Schuhe.
Sozialen Austausch habe ich trotzdem: Die Hunde scheinen mich zu mögen. Es liegt wohl daran, dass wir auf Augenhöhe sind. Davon nimmt deren Besitzerschaft natürlich keine Notiz, ich bin einfach nicht in Hörweite. Ich nehme diesen Austausch hin, manchmal werde ich angepinkelt, manchmal abgeleckt. Die kritische Körperhygiene habe ich so schnell erledigt.
Wenn ich Hunger habe, gehe ich auf Rattenjagd. Mit meiner Steinschleuder treffe ich jeden Flitzer, der sich auf mein Vorfeld traut. Wenn ich eine erlegt habe, ziehe ich das leckere Ding mit meiner Angel zu mir ans Fenster. Nach dem Ausnehmen brate ich es dann auf einem Feuer aus gesammelten Blättern oder lasse das Fleisch im Luftzug trocknen. Beides ist gut. Ich bin zufrieden und nehme wirklich nur das, was mir vor das Fenster fällt. Ich bin da sehr regional orientiert.
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