Am Ende
"Dustienne? Warst du wieder jagen? " Schläfrig blinzelte Julez seiner jüngeren Schwester zu. Im schwachen Schein der Morgensonne sah ihr grauer Wolfspelz besonders dunkel aus, die lange Rute hing durch und die Flanken bebten. Julez unterdrückte einen Seufzer. Wie lange war sie auf Jagd gewesen? Die ganze Nacht über? Und dennoch… "Du hattest wieder keinen Erfolg, oder? ", hakte der ältere Rüde nach. Sie schloss betrübt die blassen Augen und drehte den Kopf zur Seite. Beide schwiegen, nur das Schnarchen der anderen Wölfe und ein paar Vögel, die bereits munter von den kahlen Bäumen herab trällerten, waren zu hören.
Lautlos erhob Julez sich von seinem Schlafplatz. Neben ihm grummelte Kjola, die gelbe Pfote zuckte.
Der matschige Schnee unter den Pfoten knirschte leise, als der helle Rüde zu seiner deutlich dunkleren Schwester trat. Abwesend lag deren Blick auf einem schlafendem Wolf. Regelmäßig hob und senkte sich der schmale Brustkorb ihres gleichaltrigen Bruders.
Im Zwielicht sah man das getrocknete Blut im grauen Fell und die mehrere Tage alten Wunden nicht.
Sobald Auria laufen konnte ohne über seine Pfoten zu stolpern, streifte er tagelang durch die Wälder. Manchmal nahm er die neugierige Dustienne auf seinen Ausflügen mit, aber meist zog Auria alleine los.
Und bei einem dieser Streifzüge durch ihr Revier traf der Einzelgänger auf einen herumirrenden, alten Wolf. Zwischen den beiden entbrannte ein heftiger, blutiger Kampf, an dessen Ende der Eindringling floh.
So erzählte er es zwei Tage später, als er zu den anderen stieß. Nie würde Julez diesen Anblick vergessen: Das dichte Fell war zerfetzt, blutverschmiert, und er humpelte. Sein Zustand hatte sich seitdem deutlich gebessert, doch das würde nicht lange so bleiben, wenn das Rudel nicht bald Beute machte.
Vielleicht war es einfach nur Geschwisterliebe, vielleicht lag es auch an den gemeinsamen Ausflügen, die eine besondere Bindung zwischen ihnen hervorrief. Fakt war, dass Dustienne noch eifriger nach Beute stöberte als alle anderen, notfalls auch im Alleingang.
"Ich weiß, du willst ihn unbedingt retten. Aber vielleicht ist seine Zeit bereits gekommen. Für jeden kommt eines Tages der Augenblick, wo er dem Tod nicht mehr entrinnen kann. Vielleicht musst du das einfach akzeptieren. "
Sie schwieg beharrlich.
"Findest du nicht, dass es reicht? Dass du auch ein wenig Ruhe brauchst, bevor du vollkommen am Ende deiner Kräfte bist? Du wirst noch zusammenbrechen, wenn du so weitermachst! Dann kannst du ihm auch nicht mehr helfen! ".
Wie oft hatte er ihr dies bereits gesagt?
"Ihr redet alle von Auria, als wäre er bereits tot. Ihr gebt ihn etwa bereits auf, obwohl sein Herz noch schlägt. Aber ich werde das nicht tun! ", knurrte sie.
Er machte sich nicht mehr die Mühe, sie daraufhin zu weisen, dass keiner den Jungwolf aufgegeben hatte.
Dass ihre grauen Beine immernoch vor Anstrengung zitterten. Dass ihr alles Mögliche passieren konnte, wenn sie allein auf Jagd ging.
Stattdessen sah Julez schweigend auf Auria herab.
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