Am Hauptbahnhof
Nervös zieht eine Frau ihren roten Koffer hinter sich her, er bleibt an einem Kanaldeckel hängen, sie flucht. Ein Mann hört sie und fragt sich, warum sich denn heutzutage niemand mehr Zeit lasse.
Vor den Anzeigetafeln streitet ein Pärchen, Tränen fließen, es wird geschrien, es werden Vorwürfe gemacht und zum Schluss gehen sie auseinander. Sie werden sich nie wieder sehen.
Einem Mädchen fällt eine Münze runter, sie bückt sich, läuft hinterher und es ist ihr peinlich – keiner hat es bemerkt.
Mit gebrochenem Englisch möchte ein Tourist nach Hilfe fragen, doch sein Gegenüber schüttelt verständnislos den Kopf, er hält den Touristen für etwas Geringeres. Dann zeigt er auf sein Ohr und sagt genervt mit österreichischem Akzent: „Sorri, I don’t underständ, go to ze Infoschalter.“ Heute Morgen hat er mit seiner Frau gestritten, jetzt muss er allen den Tag etwas vermiesen.
In einem Zug brummt ein Handy, die Besitzerin schläft, sie hört es nicht. Am anderen Ende der Leitung ist ein Arzt, er will ihr mitteilen, dass ihre Mutter gestorben ist.
Jemand wirft eine brennende Zigarette auf den Boden, ein Taschentuch fängt Feuer. Kurz darauf tritt ein Junge das Feuer aus – Jahre später wird er seine Kinder mit der Geschichte belehren.
Hastig tupft sich eine Mitarbeiterin etwas Schminke auf den blauen Fleck, den sie auf der Wange hat, dabei überlegt sie sich, welche Ausrede sie dieses Mal erzählen kann, sollte wer danach fragen.
Am Bahnsteig acht steht eine Schulklasse, man hört ihr Lachen bis zu den gegenüberliegenden Bahnsteigen. Dort nimmt eine ältere Dame die Hand ihres Mannes, streichelt sie sanft und denkt an den Sommer zurück, als sie sich kennenlernten.
Einem kleinen Kind fällt der Lolli runter, jemand steigt darauf und er zerspringt. Das Kind weint und sofort wird es von den Eltern getröstet und bekommt einen neuen. Auch wenn es es noch nicht weiß, ist das eine von vielen Erinnerungen, die ihm die Sicherheit geben wird, immer auf seine Eltern zählen zu können.
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