Am Leben sein ist nicht genug, zu leben aber schon
Wie sehr würde es wohl wehtun zu sterben?
Mit diesem lauten Gedanken, der seit Jahren des Schreiens nicht müde wurde, stieg Lucien in die weiße Badewanne. Selbst als das eiskalte Wasser mit voller Wucht seine zarte, verwundete Haut, auf der sich die feinen Härchen gereizt aufrichteten, berührte, konnte er diese leidvollen Worte nicht begraben. Mit jeder verstreichenden Minute und jedem Ticken der Uhr drängte sie sich in den Vordergrund, brach durch den dichten Nebel in seinem Kopf hindurch. Er war sich dieser Vorstellung überdrüssig. Er wollte nicht mehr andauernd dasselbe hören, wenn er gleichzeitig niemanden kannte, der es auch vernahm. Ein solches Leben war geprägt von Einsamkeit und ließ ausreichend Raum für eine zerrende, schmerzhafte Leere. Auch dieser war er überdrüssig.
Lucien genügte nichts und er selbst konnte der Welt nicht genügen. Wodurch seine innere Stimme sich bestärkt fühlte und ihm weiterhin süßliche, wahrlich von Verlockung zeugende Worte flüsterte, die immer mehr an Reiz gewannen.
In seinen siebenundzwanzig Jahren war bisher keine einzige Bemühung von Erfolg gekrönt. Immer mangelte es ihm an einer Sache. Weder das Zufriedenstellen, noch das Zufriedensein kannte er. Auch das reichte ihm.
Mit dem Einprasseln des kalten Wassers, das auf seiner geröteten Haut brannte, als hätte er sich mit den schärfsten Glassplittern geschnitten, klärte sich langsam der Rauch in seinem Kopf. Doch die kurze Lebenserwartung dieses Zustandes war ihm schmerzlich bewusst. Und darin lag das Problem. Seine Gedanken, die nie, nie, niemals verstummten, ja, von ihnen hatte er genug. Er wollte Ruhe. Er wollte Stille.
Er hatte einmal zu Ohren bekommen, dass man kurz vor dem Sterben eine beinah göttliche Gewissheit erlange. Als absurd würde er diese Aussage nicht bezeichnen. Schließlich empfand er plötzlich das Zurücklassen von allem Weltlichen als keinen Verlust. Ohnehin hatte er sich nie in der Lage befunden zu leben, denn die Präsenz seiner Stimmen hatten sich über die Jahre hinweg als äußerst störend und hinderlich erwiesen. Was also hielt ihn noch hier?
Das Wasser fing an überzulaufen und benetzte den Marmorboden mit einer dünnen Schicht. So voll wie die Wanne nun war, so voll fühlte sich auch sein Kopf an.
Wie sehr es wohl wehtun würde zu sterben?
Luciens Geist lechzte nach der Antwort. Seine langen Finger streckte er nach der alten Rasierklinge am Wannenrand aus und zittrig führte er sie zu seinem rechten Handgelenk. Er setzte sie an, übte Druck aus und zog. Dadurch färbte sich das überlaufende Wasser innerhalb kürzester Zeit rosa.
„Endlich“, flüsterte Lucien, während er sich entspannt und den Schmerz nicht beachtend zurücklehnte. Ein Lächeln, das beinah die Illusion erweckte, es sei aus Zufriedenheit entstanden, schmückte sein hübsches Gesicht.
Lucien erkannte, dass der Tod genügte, um die Stimmen zu ersticken. Und das war für ihn und seine Entscheidung auch Rechtfertigung genug.
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