An der Nase vorbei
„Geh bitte!“ schnauzte sie, als ihr der vorletzte Zug des Tages an der Nase vorbeifuhr. Die junge Frau wollte gerade von einem Mädels Abend heimfahren. Sie ist Studentin, durchschnittlich attraktiv, hat lange Beine und langes Haselnussbraunes Haar.
Es war 23: 46, stockdunkel und sie hatte keinen Akku mehr. Sie ging den Bahnsteig entlang bis zur letzten Bank, bis zur letzten flackenden Lampe.
23: 49. Es war ruhig diese Nacht am Bahnhof, sie konnte die Motten, die ihren Weg zum Licht suchten, hören, die Grillen die, die ganze Nacht sangen, sie konnte… Schritte hören.
23: 53. Eine Person erschien am Bahnsteig. Die junge Frau richtete sich wieder auf, verwundert schaute sie zum dunkel gekleideten, groß gebauten, Mann. Er hat sie entdeckt. Mit einem zunächst langsamen, doch dann immer schneller werdenden, Schritt ging er auf sie zu.
23: 56. Ihre Haut spannte sich an, jede einzelne Haarsträhne auf ihren Armen richtete sich auf, ihre Atemzüge wurden immer schneller, immer kürzer, ihr Puls schoss in die Höhe. Hunderte von Gedanken kamen ihr in den Sinn. Was passiert jetzt? Was macht sie, wenn das passiert, wenn dies passiert. Er war bei ihr angekommen. „Hey, du! Von wo kommst du?“ Sie nickte verlegen, wusste nicht, ob sie, und was sie antworten sollte. Sie hat kein Wort gesagt. Als er sich neben sie auf die Bank setzte, stand sie schnell auf. Er machte ihr nach, folgte ihr um die Bank, sie wurde immer schneller und schneller. „Wo willst du hin, komm sofort wieder her, ich will doch nur reden!“ rief er ihr hinterher. Er wurde schneller, sie konnte schlecht in ihren Stöckelschuhen laufen. Er packte sie am Arm. Voller Wut und Zorn warf er sie auf den Boden, fast auf die Schienen. Der große Mann lehnte sich über sie. Fast schon fassungslos schaute er sie an, als ob sie ihm etwas angetan hatte. Er ring nach Luft, seine Atmung wurde mit jeder Sekunde schneller und schneller, man konnte die Aufregung, den Ärger, die Frust in seinen Augen sehen. Er stand über ihr, zückte ein Messer und hielt es ihr vors Gesicht. Die Angst in ihren Augen machte ihn noch wütender.
00: 00. Der Zug kam. Der Mann stieg ein.
00: 01. „Gehe bitte!“, waren ihre letzten Worte, bevor ihr der letzte Zug vor der Nase vorbeifuhr.
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