Atlas an Träumen
Blass bist du geworden. Müde deine Augen, mit denen du mich verschlafen vom Bettrand aus anguckst. Ein stechender Geruch von Desinfektionsmittel liegt in der Luft. Macht den Abstand zwischen uns noch deutlicher. Deine trockenen Lippen bewegen sich. Versuchen Laute, Worte, ja sogar Sätze zu formen. Stille. Stille ist alles, was kommt. Der Arzt merkt meine Sorgen. Er gibt dir Medikamente. Und lange dauert es nicht, da werden deine Augen wacher und du nimmst einen großen Schluck Wasser.
„Woher wusste Rapunzel, dass sie dem Märchenprinzen vertrauen konnte?“
„Wie meinst du das?“, frag ich dich verwundert.
„Woher kam der plötzliche Drang, ihr Zuhause zu verlassen?“
„Mia! Das sind die Medikamente. Du redest wirres Zeug.“
Du blickst mich mit deinen glasigen Augen an. „Spürte sie innerlich, dass sie im Turm gefangen war?“
Erwartung reflektiert sich auf dein gesamtes Gesicht. Du sehnst dich nach einer Antwort. Und oh, wie gerne würde ich sie dir auch geben. Aber wie soll ich, wenn ich deine Fragen nicht richtig verstehen kann. Die Stille zwischen uns wird größer, nimmt immer mehr Platz ein. Ich spüre, wie sich die dünne Verbindung zwischen uns langsam trennt, versuche mich festzuklammern.
„Weiß ein Kanarienvogel, dass er gefangen ist? Ist das nicht schon Normalität für ihn?“, frage ich dich. In der Hoffnung du könntest dadurch noch etwas länger bei Bewusstsein bleiben.
Es wirkt! Du blickst mir direkt in die Augen.
„Woher weiß ich es denn?“
„Was meinst du?“
„Na, dass ich gefangen bin?“
„Ich weiß es nicht“, würde ich dir jetzt am liebsten gestehen. Aber damit würde ich auch unsere Unterhaltung beenden, also lasse ich es. Überlege kurz und schließlich bitte ich dich:
„Stell dir etwas vor!“
„Irgendetwas?“
„Ja. Irgendetwas, das du gerne machen würdest, wenn du wieder gesund bist. Egal wie verrückt oder unmöglich es scheint.“
„Ich möchte-“
„Nein! Sag es mir nicht! Sobald du es aussprichst, werden die Selbstzweifel kommen. Vorerst-“, flüstere ich und lege meine Hand auf dein Herz. „Vorerst, da bleiben deine Träume nur hier drin! Sammle sie und egal was du tust, habe immer einen Atlas an Träumen bei dir.
Aber bitte, tu mir einen Gefallen und geh, sobald du wieder gesund bist. Geh und mache all deine Träume wahr. Lass sie dir von niemanden wegnehmen!“
Du lächelst zufrieden und ich weiß, dass ich dir zumindest ein paar deiner tausenden Fragen beantworten konnte. Gerade willst du deine Augen wieder schließen, da frage ich dich noch leise:
„Willst du wissen, was der Unterschied zwischen dir und Rapunzel ist?“
Du nickst im Halbschlaf und ich antworte:
„Rapunzel ist nur eine Figur, die sich jemand ausgedacht hat. Du aber, du bist real!“
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