Auch der Baum hoffte
Er stand da. Einfach da. Immer schon. Keiner wusste, wie lange. Er war ein komischer Baum. Wenn man ihn ansah, schien es, als wäre er nicht nur ein Baum, sondern als wäre er viele, die irgendwann einmal zusammengewachsen waren.
Ein Teil von ihm bestand aus dicken Ästen, an denen sattgrüne, große, beinahe riesige Blätter hingen. Doch je höher die Äste des Baumes reichten, desto dünner wurden sie. Sie bogen sich geradezu unter dem Gewicht der vielen unzähligen, allerdings wesentlich kleineren Blätter. Es waren viel zu viele auf viel zu wenig Platz. Selten kamen Wasser und Mineralien von den Wurzeln bis zu den kleinen Blättern, denn die dicken Äste zweigten alles ab, nahmen alles für sich. So wurden die dünnen Äste immer dünner und die dicken immer dicker, die großen Blätter immer größer und die kleinen immer kleiner - schwächer, braun, …
Oft fand sich der Baum geschüttelt vom Wind. Dann wurden die kleinen Blätter heruntergerissen – der Kraft beraubt, den Elementen zu trotzen. Die Großen konnten es sich bequem machen, schenkten den Kleinen, verzweifelt durch die Luft Wirbelnden, keine Beachtung. Jene, die um Hilfe baten, wurden abgewiesen, fadenscheinige Ausreden wurden erfunden. Denn die Großen wussten, dass sie stärker waren. Dass sie sich durchsetzen konnten.
So veränderte sich der Baum, wirkte immer mehr wie eine willkürliche Ansammlung von Blättern und Ästen, die nichts miteinander zu tun haben wollten. Der existentielle Spalt zwischen ihnen wurde immer größer.
Doch eines Tages bekam die uralte Rinde des Baumes Risse. Zuerst waren sie ganz klein, kaum sichtbar. Doch wurden sie größer, mit jedem Tag, mit jeder Minute, mit jeder Sekunde, in der der Reichtum des Baumes so ungerecht aufgeteilt war. Bald waren sie sichtbar. Sichtbar für alle, die ihre Augen nicht verschließen wollten. Sichtbar für die, die sich der Wahrheit stellten; für die, die vor der Wirklichkeit nicht flohen. Unsichtbar aber waren sie für die grünen Blätter.
Nur ein paar von ihnen gab es, die ihre Augen nicht verschlossen. Zumindest nicht ganz verschlossen. Schritt für Schritt wurde ihnen klar, wohin ihr Weg sie führen würde, was sie dabei waren anzurichten: den Bruch des Baumes. Den Bruch ihrer Welt.
Und so begannen sie etwas zu verändern. Begannen, nicht mehr alle abzuweisen, die sie um Hilfe baten. Begannen, ein wenig Wasser an ihnen vorbei ziehen zu lassen. Begannen zu erkennen, dass sie auch so leben konnten. Gut leben konnten. Doch der Baum und die kleinen Blätter konnten es immer noch nicht. Viel zu viele waren es, die Hilfe benötigten und viel zu wenige, die sie gaben. Ihnen allen blieb nur noch eines: Zu hoffen, dass ihr Mut für andere eine positive Zumutung werden würde, damit der egoistische Übermut der einen nicht das Ende sowohl der einen als auch der anderen bedeuten würde.
Auch der Baum hoffte.
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