Außerhalb des Glaskelchs
Es war eine Nacht, in der die Wände nicht kühl sind, wenn man sich mit nackter Schulter vorm Schlafengehen dagegenlehnt, und ruhige Stimmen durchsickerten den Hof, im Schein einer einzigen Kerze von fern her sickernd. Die an der kalkverputzten Wand hängende Lampe war der Mittelpunkt eines Sonnensystems aus getäuschten Nachtfaltern, und die Heuschrecken an der Wand warfen armlange Schatten.
Ein hoher Glaskelch, in ihm die Kerze, die auf rotem Sand ruht. Das Licht lässt die Gläser, Becher und Handschuhe, lässt das alte Nussholz des Tisches erscheinen wie mit dunkler, brauner, verschwimmender Tinte gemalt. Die Flamme spielt einsam in dieser Nacht ihr Spiel, sonst hält alles still, scheint dem Spiel zuzusehen, durch die Glaswand des Kelches. Zitternd stimmen die Feuerschatten auf den schwarzen Brettern ein in das Zittern der Grillen in der Luft, das der Nacht ist wie dem dunklen Zirbenwald die haardünnen Sonnenstrahlen am frühen Morgen. Ein im Glaskelch gefangener Käfer umkreist in stetigen Bahnen die Kerze, schleift an der Glaswand, raschelt, endlos, in monotoner Verzweiflung ist er auf einer ewigen Flucht, wandert über roten Sand, holprig zieht er im Licht der still spottenden Kerze seine Kreise; bis er irgendwann nicht mehr hinter ihr hervorkommt. Wir harren weiter in der heißen Nacht. Wir denken uns, sollen wir den Glaskelch drehen, sodass er sandig auf den Nussholzbrettern scharrt, sodass wir vom Scharren begleitet sehen, wie die Schatten am Tisch sich drehen wie schwarze Mönche im Gebet sodass wir sehen, wie die Glanzstreifen auf den Gläsern sich verziehen und verformen, sodass wir sehen, was mit dem Käfer passiert ist?
Wir tun es nicht. Erst später, viel später, die zwei leeren Weinflaschen stehen halb angeflackert und ernst da, wie riesige Statuen, und die Grillen singen lauter, und heiser, als wir den Kelch umdrehen, und sehen. Der Käfer hat sich in eine Spalte zwischen Kerze und Sandboden gedrückt, dort hat er gewartet, auf etwas, was wir uns außerhalb des Glaskelchs nicht ausmalen können. Und das heiße Wachs ist dann auf ihn geronnen, langsam hat es den Käfer bedeckt, er hockt, kauert dort im Spalt, mit starrgewordenem Wachs übergossen, und es scheint als blickt er durch die Wand des Kelches, dem er nicht entflohen ist. Und jetzt, nachdem wir den Kelch gedreht haben, wir wollen seinen Blick sehen, wir könnten ihn sicherlich sehen, nur, in der braunen Wein- und Tintennacht sehen wir nur die Ganzheit seines kleinen erstarrten Körpers, doch sicherlich, kämen wir näher hin zum Kelch, der Blick wäre zu sehen. Wir tun es dann, doch durch die dünne Wachsschicht vergraut, verschwimmt alles. Kein Blick.
Nur ein Fühler ragt heraus, kurz und zierlich, und zuckt hin und her, immer gleich, wirft einen haardünnen Schatten auf das Wachs und den tiefroten Sand. Er zuckt hin und her, wie der Zeiger einer Uhr. Er zuckt, hin und her, wie der Zeiger einer Uhr, die eine Zeit zeigt, die wir, die wir außerhalb des Glaskelchs sind, nie verstehen werden.
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