Auf der anderen Seite ist das Gras auch nicht grüner. von Anna Bauer
Die Nacht verblasst bereits, als Magret die Küche betritt. Der Alte sitzt noch immer in Latzhose und Gummistiefel auf der Bank beim Küchentisch, genau dort, wo sie ihn vor ein paar Stunden zurückgelassen hat. Vor ihm steht ein leeres Kaffeehäferl, es wird nicht die einzige Tasse Kaffee gewesen sein, die er während des Wartens getrunken hat. Und trotzdem ist er eingenickt, der Alte, den Kopf gesenkt, die Arme verschränkt, der Atem keuchend, grollend. Magret bleibt mitten in der Küche stehen, unsicher, ob sie ihn wecken soll, er sieht so friedlich aus. Aber ihn einfach sitzen zu lassen, das kann Magret auch nicht. Weil er sich dann später wieder nicht bewegen können wird, weil sich die Schmerzen auf seine Laune schlagen werden. Und weil er doch bloß gewartet hat, der Alte, auf Magret. Sag mir Bescheid, hat er zu ihr gesagt, sag mir Bescheid, wenn du aus dem Stall zurückkommst. Eigentlich hat er mitkommen wollen, mit in den Stall zur Kälbergeburt, aber das Kreuz hat so geschmerzt und die Hüfte erst recht. Noch nie zuvor ist ein Kalb ohne den Alten auf die Welt gekommen.
Ich bin zurück, sagt Magret, noch bevor sie es sich anders überlegen kann. Sie sagt es in die dämmernde Stille der Küche hinein, nicht zu laut, nicht zu leise. Der Alte reagiert nicht. Magret ist froh, beinahe. Später kann sie dem Alten erzählen, dass sie versucht habe ihn zu wecken und dass er einfach weitergeschlafen hat. Dass sie alles probiert habe, der Alte muss ja nicht wissen, wie wenig alles für Magret ist. Solange er schläft muss Magret nicht nachdenken, wie es weitergehen wird mit dem Kalb, solange er schläft ist alles gut. Gerade will sie sich umdrehen, will ins Bad gehen und sich aus den dreckigen Stallklamotten schälen, da nuschelt der Alte plötzlich: Und? .
Magret zuckt zusammen.
Die Augen des Alten sind noch nicht ganz offen, Magret erkennt rotgeplatzte Äderchen auf weißen Augäpfeln. Er zuckt und gähnt. Und? . Seine Augen bohren sich in Magret, sie wiegt sich hin und her, versucht dem Blick zu entkommen. Alles gut gegangen, antwortet sie, Alois hat mir geholfen. Aber er ist schon wieder heimgefahren, die Tierarztpraxis sperrt heute früh auf. Der Alte nickt, er mag Alois. Magret weiß das. Was ist es geworden? , will der Alte schmatzend wissen.
Sie hätte wissen müssen, dass er fragen wird, es ist die einzige Frage, die zählt, wenn eine Kuh kalbt. Magret wünscht sich, sie müsse keine Antwort geben. Nicht heute, nicht morgen, nicht die nächsten Jahre. Nie.
Ein er, sagt Magret, ein Stier.
Kurz blickt sie der Alte an, dann sinken seine Schultern herab. Die Bedeutung dessen steht ungesagt zwischen ihm und Magret. Ein paar Wochen am Hof, ein, zwei Monate vielleicht. Dann ein quietschender Tiertransporter, ein wenig Geld. Und ein Stier weniger auf dieser Welt.
Auf diesem Hof gibt es nur Milchkühe, so war es schon immer.
Der Alte reibt sich die Augen, versucht aufzustehen, die Hände auf den Küchentisch gestützt. Ich werde gleich morgen den Metzger anrufen, beschließt er nüchtern, fragen, ob er ihn in ein paar Wochen nehmen wird. Sonst müssen wir jemand anderen finden. Heute kauft ja kaum jemand mehr Vieh zu einem angemessenen Preis.
Die treuherzigen Augen des Kalbes, der laute Seufzer, mit dem es zum ersten Mal Leben gekostet hat, sein warmes Fell - Magrets Welt beginnt sich zu drehen. Küchenfenster, Abwasch, Ofen, Tür. Sie zieht einen Küchenstuhl vom Tisch weg und fällt darauf, die Beine geben einfach nach. Magret bricht ein ungeschriebenes Gesetz, sie setzt sich trotz dreckiger Stallkleidung auf den Stuhl. Der Alte sagt nichts. An jedem anderen Tag wäre das ein Triumph für Magret gewesen.
Seine Haut ist faltiger geworden, bemerkt sie, über das linke Augenlid hängt schlaffe Haut. Sie atmet tief ein. Nein, bricht es aus Magret heraus. Nein. Vielleicht ist es die Müdigkeit, vielleicht die Erschöpfung. Magret sieht erstaunt aus, überrascht davon dem Alten widersprochen zu haben. Nein, erwidert sie, das kannst du nicht machen.
Der Alte lässt sich zurück auf die Bank sinken. Es geht nicht anders, das weißt du. Seine Stimme klingt hart, abgehärtet. Magret beobachtet ihn aus dem Augenwinkel. Ich habe gespart, beginnt sie zögerlich. Seine Augenbrauen furchen sich zu zwei grauweißen Strichen. Ich habe gespart, weil ich weiß, wie teuer es ist ein Tier zu behalten, das einem kein Geld einbringt. Wir können ihn hierlassen, hier bei uns. Am Leben. Es muss nicht immer so sein. Wir können.
Weiter kommt Magret nicht, da schlägt die Faust des Alten schon wütend auf den Tisch. Fast wird sie überrumpelt von seiner Reaktion, fast, aber Magret kennt ihn und sie kennt seine Art. Wir haben das schon immer so gemacht, sagt er oft, wenn sie neue Ideen hat, und es hat gut funktioniert, und dann wird er wütend auf sie. Der Gott, zu dem hier auf diesem Hof gebetet wird, ist die Tradition.
Wir können es doch versuchen, flüstert Magret, senkt den Blick zur Tischplatte. Dort wo mittags das heiße Geschirr steht ist das Holz aufgequollen. Nein, faucht der Alte, nein. Das können wir nicht. Nicht heute und nicht morgen und einfach gar nicht. Wenn wir den einen Stier dabehalten, dann können wir auch den nächsten dabehalten, ich kenne dich. Und außerdem würde es ohnehin nichts ändern, rein gar nichts würde es ändern. Außer Sorgen machen, das würde es. Und was willst du tun, wenn das Geld aus ist? Oder wenn das Vieh einen Tierarzt braucht? Stiere können alt werden. Und wo willst du ihn hingeben? Zu den Kühen können wir ihn nicht dazu. Was macht denn ein Stier so ganz alleine auf der Wiese, das ist doch auch kein Leben.
Der Alte verstummt so abrupt, wie begonnen hat, schüttelt den Kopf, gähnt. Er hält sich keine Hand vor. Magret sieht, wie sich in seinem Mund Spuckefäden ziehen. Dann steht der Alte auf, so als wäre das alles erledigt, so als ob sie sich gerade darüber unterhalten hätten, ob es morgen Mittag Suppe geben soll.
Aber, versucht Magret, aber. Der Stier kann ja auch nichts dafür. Dass unsere Welt so funktioniert. Sie kaut auf ihrem Daumennagel, er schmeckt nach Stall und Dreck. Der Alte schweigt, so als wären ihm die Worte ausgegangen. Magret stellt sich vor, dass er früher auch so war wie sie. Dass er versucht hat die Kälber zu retten, damals, als er noch jung war. Und dass er kaputt gegangen ist am System.
Der Alte hustet, hart und keuchend. Es geht nicht, meint er schließlich, mit dieser Stimme, bei der man weiß, dass es sinnlos ist noch zu diskutieren. Das Thema ist abgehakt. Aus. Ende.
Magret fällt ein, mit wie viel Freude der Alte sonntags das Kalbsgeschnetzelte beim Wirten verdrückt.
Sie würgt, versucht es in einem Husten zu verbergen. Der Alte merkt nichts, sondern schlurft an ihr vorbei zur Küchentür. Magret sieht, wie sehr sein Rücken schmerzt. Sie hat kein Mitleid mit ihm. Ich gehe schlafen sagt er, das solltest du auch tun. Jetzt steht er hinter ihr. Magret springt auf, dreht sich wütend zu ihm um. Sein Atem stinkt nach Kaffee und Alter.
Er heißt Ferdinand, probiert Magret, es ist die Verzweiflung, die aus ihr spricht. Der Alte gibt den männlichen Kälbern keinen Namen, nie. Es ist leichter jemanden gehen zu lassen, den man nie gekannt hat, pflegt er zu sagen. Magret sieht die Wirkung des Gesagten, sieht es in seinen Augen, sieht es in seiner Haltung.
Sie und der Alte stehen einander nun gegenüber, starren sich an. Es ist ein Wettkampf, darum wer stärker ist, er oder sie. Gleich krachen Schädel und Schädel aufeinander, wie bei Stieren. Wir sind bloß zwei Menschen, denkt Magret, aber den Kühen nicht so fremd.
Das Kalb hat keinen Namen zischt der Alte schließlich, Spucke regnet auf Magret herab, aber sie widersteht dem Drang sie wegzuwischen. Das Kalb hat keinen Namen. Nicht solange esin meinem Stall steht. Und überhaupt: Es ist besser so, was will ein Stier hier? Es wird ihm nicht gut gehen.
Der Alte lässt Magret stehen, verlässt die Küche. Sie hört, wie die Holztreppe unter seinem Gewicht knirscht, als er in sein Schlafzimmer geht.
Das stimmt nicht, ruft sie ihm nach. Auf der anderen Seite ist das Gras auch nicht grüner. Und wie kannst du entscheiden, wer ein Recht darauf hat zu leben und wer nicht?
Aber das hört der Alte schon nicht mehr.
Draußen ist es Tag geworden und Magret weiß: Der Tiertransporter wird kommen und der Stall wird wieder um ein Tier leerer sein und das Leben wird weitergehen, so als ob nichts gewesen wäre. Zumindest für den Alten wird es so sein.
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