Aufbruch
Ich habe vieles: Ein Dach über dem Kopf, genug zu essen, eine fabelhafte Arbeitsstelle und wundervolle Eltern. – In den Ohren der meisten Menschen muss sich das nach der optimalen Existenz anhören. Doch etwas Essentielles fehlt mir.
Schon mein ganzes Leben will ich Freunde finden. Wahre Freunde. – Doch sie haben mich gefunden. Und deshalb renne ich.
Die Tränen brannten in meiner Kehle, während ich hilflos dabei zusah wie der schmierige Typ, der mich schon immer gern gepiesackt hatte, auf die verstreuten Blätter am staubigen Erdboden trat. „Du schreibst immer noch an deinem Abenteuerroman?“ Er bewegte genugtuend seinen Fuß. Das Papier zerriss. Ich wimmerte.
„Frauen sollten ihre Nasen lieber in Kochtöpfe anstatt in Bücher stecken“, lachte er dröhnend.
Zornig funkelte ich ihn an und krümmte die zitternden Finger mechanisch zu Fäusten. Von den Passanten konnte ich keine Hilfe erwarten. Insgeheim gaben ihm alle Recht.
Der nächste Zettel knitterte unter seiner Sohle.
„Das reicht!“
Wir fuhren beide überrumpelt herum.
Die Leute, mit denen ich meine Jugend verbracht habe, haben mich stets stehen gelassen, um ihre eigene Haut zu retten, wenn sie Ärger gerochen haben. Ausgerechnet acht Fremde haben sich für mich eingesetzt.
Weil ich ihnen etwas schuldig war, lud ich sie ins Wirtshaus ein. Sie waren Seefahrer und ungefähr in meinem Alter. Ihr Schiff war auf der Reise beschädigt worden und sollte hier repariert werden.
„Wir sind auf dem Weg in die Neue Welt“, grinste der Kapitän.
Die Augen des Smutjes leuchteten. „Dort soll es massenhaft Gold geben.“
„Ihr seid also auf der Suche nach Schätzen.“
„Nein“, wurde ich korrigiert. „Wir sind auf der Suche nach Abenteuern.“
Ich strahlte. „Erzählt mir mehr!“
Das Seitenstechen wird zunehmend unangenehmer, doch ich laufe unerbittlich weiter. Mein Körper benötigt eine kurze Regenerationspause, einen Luxus, den ich mir jetzt nicht leisten kann.
Je länger ich auf den schier unendlichen Ozean hinaussah, desto trübsinniger wurde ich. Das Blau symbolisierte für mich die Freiheit. Beim Anblick der Schiffe packten mich das Fernweh und die Sehnsucht nach fremden Ländern. Sie lockten verheißungsvoll an Bord zu gehen.
Bald waren sie für immer fort. In den vergangenen Tagen waren sie mir sehr ans Herz gewachsen.
„Komm doch mit uns“, riss mich der Kapitän aus meinen Gedanken.
Unsicher entgegnete ich: „Wieso wollt ihr denn ausgerechnet mich dabeihaben?“
„Ganz einfach.“ Er schenkte mir ein breites Lächeln. „Weil wir Freunde sind.“
„Ich … kann nicht mit.“
Keuchend renne ich durchs Hafenviertel. Hoffentlich sind sie noch da! Nasse Salzspuren benetzen meine Wangen.
„Warum denn nicht?“, fragte Mutter lediglich, Vater nickte mir ermutigend zu. Eine letzte Umarmung war unser stummer Abschiedsgruß.
Dann rannte ich Hals über Kopf los.
Die Tränen der Nostalgie verwandeln sich in Freudentränen, als ich die Departure und ihre achtköpfige Besatzung in der Ferne erblicke. Sie sind im Begriff abzulegen. „Wartet!“, rufe ich glückselig. „Nehmt mich mit euch mit, Freunde!“
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