aurora
Die einen sagen, dass das Leben mehr schmerzt als der Tod, und sie suchen nach einem Ausweg aus ihrer Misere; sie suchen und suchen und finden diesen, indem sie selbst über das Ende entscheiden, die einen früher, die anderen später, aber sie alle sind tot, bevor ihre Zeit eigentlich gekommen wäre.
Die anderen sagen, dass der Tod mehr schmerzt als das Leben, und so verbringen sie den Rest ihrer Tage in Angst vor diesem; sie zittern, wenn sie darüber nachdenken, dass sie irgendwann alles zurücklassen müssen und nicht mehr sein werden, aber letztendlich können sie daran auch nichts ändern.
Währenddessen sage ich, dass es vollkommen egal ist, was mehr schmerzt, dass eine Meinung zu haben nichts bedeutet, denn alle Menschen sterben irgendwann, alle haben einen letzten Tag und das Herz hört auf zu schlagen. Oft frage ich mich, was du davon gehalten hättest; ich sitze mitten in der Nacht wach in meinem dunklen Zimmer und sehe dich neben mir, mit einem Grinsen auf den Lippen, das auch nicht weicht, als ich dir diese Frage stelle.
»Hast du Angst vor dem Tod? «
Nicht ein einziges Mal antwortest du mir; du siehst mich einfach weiter stumm an, funkelnde Augen in der Dunkelheit, ohne sonstige Veränderungen in deinem Ausdruck. Wenn ich dich so sehe, dann kann ich mir ein bitteres Lächeln nicht verkneifen, weil ich deine Antwort doch längst kenne.
Irgendwann geht die Sonne auf und droht mein Zimmer in helles Licht zu tauchen, dann weiß ich, dass es Zeit für dich ist, zu gehen; normalerweise sagt keiner von uns beiden etwas dazu, keine Verabschiedungen, keine Versprechungen, und doch schaffe ich es nicht, meine Worte zurückzuhalten.
»Geh‘ bitte nicht. «
Mein Blick findet deinen, flehend, aber du reagierst nicht darauf. Wenn ich so darüber nachdenke, hast du nie auf das geachtet, was ich zu sagen hatte, hast dir nie Gedanken darum gemacht, wie ich mich fühle, wenn du mich nur anschweigst, aber trotzdem ständig meine Nähe suchst.
Die Wahrheit ist, dass ich weiß, dass du keine Angst vor dem Tod hattest, dass du das Leben nicht als ein Wettrennen gegen die Zeit angesehen hast, dass du den Moment genossen hast, ohne darüber zu grübeln, was der nächste Tag bringen würde. Du fürchtetest dich viel mehr davor, alleine zu sein; ich konnte sehen, wie du schrumpftest, wie du in kleine Scherben zersplittertest, Bruchteile deines Selbst. Und dennoch habe ich dir diese Frage nie stellen können, nicht ein einziges Mal.
»Ist alles in Ordnung bei dir? «
Was mir geblieben ist, bist du selbst, der mich jede Nacht besucht, heimsucht, und ich kann dir nicht entkommen; ich sehe dich in allem und doch nicht, weil es unmöglich wäre, dass du noch hier bist, nicht nachdem du dich für ein anderes Ende entschieden hast.
Da bin ich wieder, auf dem Zimmerboden sitzend, umgeben von der Schwärze der Nacht, und die Tränen wollen nicht aufhören, über meine Wangen zu laufen, während du schweigend und grinsend neben mir verweilst.
»G-Geh‘ bitte endlich. «
Ich warte vergeblich auf einen Sonnenaufgang.
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