Aus dem Tagebuch eines mittellosen Naturdichters
Donnerstag, 4. Oktober – Nachtrag
I.
Die Natur ist im Kreislauf begriffen. So heißt es doch: Ein Kreislauf des Lebens und des Sterbens, des Blühens und Verdorrens, des Säens und Erntens, des Eier Legens und Eier mit frischen Gewürzen Zubereitens; und letztlich auch der Kreislauf des Jahres, das seine vier Witterungen wie zerlesene Groschenromane wieder und wieder auf dem Tisch ausbreitet. So verwundert es wenig, dass auch heuer, wie in jedem Jahre, pünktlich zur nachsommerlichen Tagundnachtgleiche, der Herbst hereingebrochen ist. Die Blätter sind im Begriff, jenen gelblichen Rotton anzunehmen, der die wohligen Herbsttage wie keine andere Farbe vertritt, und sich schließlich, ehe die kalte Jahreszeit hereinbricht, vom Baum zu lösen und zu Boden zu wehen; all das, um bald wieder zu grünen und wieder zu verblassen. Wie ein kleiner Streifen jungen Bodens, von der Ebbe geschaffen, von der Flut wieder getilgt. Eine neue Welt, in der auf das Morgenlicht die Abenddämmerung folgt. Ein unentdecktes Land, von der Schöpfung erfasst: Und schon am jüngsten Tage.
II.
Die Natur ist im Kreislauf begriffen. Jedes Ende ist ein Anfang, sagen sie. Ich frage mich, heißt das, jeder Anfang ist zugleich ein Ende? Wenn Ende gleich Anfang ist, was ist es dann, welches das Ende Ende und den Anfang Anfang und beide zugleich ein und dasselbe sein lässt? Gibt es das Ende denn überhaupt, so, wie wir es uns vorstellen? Oder ist es vielleicht nicht mehr als ein Trugbild, eine weiße Wolke, die einen langen Herbstschatten über die kahlen Äcker wirft? Eine Illusion, die wir uns geschaffen haben, weil wir sie fürchten: Die Unendlichkeit. Und doch – und doch, weiß der Dichter einzuwerfen –, haben wir ihr ein Wort gegeben, ein Wort, das uns zum Schein die Fähigkeit verleiht, sie zu berühren, über ihr zu stehen. So sehen wir uns in einer Natur, die sich stets selbst imitiert, inmitten eines großen Kreislaufs, der uns in die Sicherheit wiegt, niemals auf Neuland treten zu müssen: Denn auf den Herbst folgt der Winter, und auf den Winter der Frühling, und auf den Frühling der Sommer; und auf den Sommer wieder der Herbst.
III.
Ich stehe am Rande eines Weizenfeldes, die Ähren abgeerntet, das Korn eingefahren und gedroschen. Ein Rabe kauert in der Ackerfurche und blickt zu mir herüber. Wie groß wohl das Ei war, aus dem er geschlüpft ist? In welcher Farbe seine Schale geleuchtet, welch Räuber es lüstern beäugt und doch nicht zu erringen vermocht? Ich weiß es nicht. Manchmal denke ich, der Kreislauf ist am Ende doch nur ein aufgerollter Wollfaden, der scheinbar nicht Anfang und Ende hat, und doch mit jeder Windung, die er um den krummen Zweig nimmt, den ich aus dem Straßengraben aufgehoben habe, eine neue Wendung nimmt. So scheint es beinah mehr ein Trost als ein Schrecken, zu wissen, dass jeder Herbst nicht alte denn neue Blätter bringt, dass wir mit jedem Morgen in eine neue Welt eintreten; eine junge, unentdeckte Welt. Dass wir mit jedem Schritt fremden Boden betreten. Unberührten Grund. Neuland.
Wir danken unseren Unterstützern
Mit Unterstützung folgender Wiener Bezirke:
Für Sponsoringanfragen wenden Sie sich bitte an Margit Riepl unter margit.riepl@gmx.at
Wenn Sie "Texte. Preis für junge Literatur" unterstützen möchten, spenden Sie bitte auf folgendes Konto:
Literarische Bühnen Wien, Erste Bank IBAN: AT402011182818710800, SWIFT: GIBAATWWXXX
