Ausgewogenheit
Wenn ich es kaum erwarten kann, zu zeigen wie gut ich die Strophen singen kann, bringe ich mit meinem Tempo die anderen aus dem Rhythmus. Wenigstens wissen sie jetzt, wie gut ich sie kann. Auch der Stift, der über mein Blatt saust, hat keine Zeit eine angenehme Menge an Tinte auszuschütten, wenn er nach einer Sekunde schon in der nächsten Zeile steht. Meine Schrift, die eigentlich schön ist, transformiert sich in ein schlampiges Chaos an Buchstaben, bei denen der Lehrer nur hoffen kann, sie zu entziffern. Kein Problem, schnell sein ist gut. Wenn ich meine Schularbeit als erstes abgebe, bin ich automatisch schlau. Sie müssen nicht wissen, dass ich doppelt so viele Aufgaben ausgelassen habe, wie sie. Ich bin fertig mit dem Lernen, der Rest ergibt sich dann im Test. Wenn sie fragen, kann ich wenigstens sagen, dass ich mir Sachen am schnellsten merken kann. Dass die Mathe Aufgaben bei der mein Lehrer staunte, mit ChatGPT gelöst worden sind, müssen sie nicht wissen. Ich springe viel zu schnell auf andere Sachen, die ich dann halbherzig vollende, damit ich mich besser fühle. Wenn das Große und ganze eines Portraits gut ausschaut, ist das genug. Niemand achtet auf die einzelnen Pinselstriche, die das Bild zu dem machen, was es ist.
Langsam sein ist in der Gesellschaft als schlecht abgestempelt. Wenn ich meine Schularbeit als letztes abgebe, um so viele Fehler wie möglich zu vermeiden, ist das doch eigentlich gut, oder? Ich verstehe Mathe nicht. Ich brauche meistens eine Stunde für ein paar Aufgaben, bei denen ich aber sicher gehe, dass sie richtig sind. Ich korrigiere sie, nachdem ich fertig bin. Wenn ich schreibe, beginne ich mit dürren Wortfetzen in meiner Notizen App, bevor es sich nach einer Woche zu einem Text entwickelt, auf den ich stolz sein kann. Die Zeichnung, die ich vor einem Jahr begann, bekam gestern die finalen Schraffuren. Lehrer hassen es, wenn sie warten müssen, um die Klasse zuzusperren, weil ich meine Stifte in ihre zugeordneten Plätze einstecke. Ich verpasse meistens den ersten Bus, den meine anderen Klassenkameraden erwischen. Doch ich mag es die Blumen, Plakate und Menschen im Vorbeigehen zu betrachten. Die Pinselstriche eines Gemäldes sind viel komplexer als man vielleicht denkt; sie haben alle eine eigene Form und Farbe, setzen sich trotzdem zusammen, sodass am Ende eine wunderschöne Darstellung von Gefühlen und Fleiß auf Papier verewigt wird.
Du musst dich nicht in eine Kategorie stecken; du solltest das auch nicht. Wer schnell ist verpasst die winzigen Details, wie die kleinen Bienen, die über das Feld surren. Konzentriert man sich nur darauf, alles so gut wie möglich wertzuschätzen, merkt man gar nicht, dass neben der Blume, die man anstarrt, eine ganze Weide voller bunten Pflanzen steht.
Ohne dem Zögern oder dem Eilen beim Singen der Strophen, erzeugt unser gemeinsames Tempo die schönsten Melodien.
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