Avanti
Als wir uns in Bewegung setzen und es hinter den Fenstern unheimlich schwarz wird, versuche ich die letzte Probe auszublenden, aber die Stimme des Regisseurs hallt wider: „Und Auftritt!“
Musik: vivace. Die Statisten betreten die Bühne, gestikulieren und bewegen sich auf ihre Plätze zu.
Regisseur: „Stopp! 1: 30 min, ihr solltet längst da sein! Zurück und flotter, wir haben keine Zeit!“
Menge: „Das ist doch viel zu wenig Zeit, wie sollen wir alle gleichzeitig zur Aufstellung kommen?“
Regisseur: „Ohne Rücksicht auf Verluste, jeder bahnt sich seinen Weg durch, Hauptsache ihr kommt an – und zwar pünktlich!“
Menge: „Aber…“
Regisseur: „Eure Zeit ist begrenzt. Am Ende verschwindet ihr alle durch den Boden in eurem Grab. Jeder geht direkt auf sein Grab zu!“
Menge: „Aber…“
Regisseur: „Wir haben keine Zeit, Schlag 1: 30 min und ihr seid alle auf eurem Platz!“
Neuer Versuch: Statisten drehen sich fröhlich im Kreis, riechen an Blumen, winken zur Empore. Sie bleiben auf ihrem zugewiesenen Platz stehen.
Regisseur: „Ihr solltet alle seit 13 Sekunden hier sein. Was für eine inhomogene Gruppe!“
Empörung unter den Statisten.
„Jede Rolle endet im Grab, jede.“
Statistin: „Aber ich kann doch meine Rolle spielen, wie ich möchte, meinem Weg meine persönliche Note geben!“
Regisseur: „Ihr müsst auf die Sekunde dort sein, 1: 30 min und das Licht geht aus!“
Statistin: „Aber warum sollte ich direkt zu meinem Grab gehen? Ich darf doch noch einmal in den Orchestergraben winken, zu den Sternkulissen aufsehen, meine Kollegen anlächeln. So komme ich auch auf meinen Platz.“
Regisseur ignorant: „Die Zeit läuft!“
Die Statisten betreten erneut die Bühne und schreiten auf ihre Plätze zu.
Regisseur: „Keine Zeit vergeuden, ihr müsst immer schneller werden, Spannung aufbauen, eure Tage sind gezählt und das merken die Charaktere. Zeigt das!“
Statist: „Aber wenn unsere Tage gezählt sind, dann sollten wir erst recht Erinnerungen sammeln. Ins Publikum sehen, jemandem in die Arme fallen, bevor wir stehen bleiben.“
Regisseur: „Auf Position!“
Musik: accelerando, die Statisten sind noch weit von ihren Plätzen entfernt.
Regisseur: „Das Ende rückt näher, hört ihr das nicht? Nur nicht nachlassen, keine Umwege!
Souffleuse: „Schneller, weiter, keine Fehler machen, keine Schwäche zeigen!“
Musik: presto, dramatisch, das Licht wird dunkler, Nebel zieht über die Bühne.
Statist: „Ich will das alles nicht mehr, bin ich dafür Schauspieler geworden? Bin ich dafür GEBOREN worden? Um rein Ihre Befehle zu befolgen? Darf ich meine Rolle, meinen eigenen Weg nicht gestalten, wie ich möchte?“
Regisseur: „So ist das Leben. Sie sind nur Statist!“
Statist verzweifelt: „Aber…“
Regisseur: „Wir haben keine Zeit für Emotionen, weitermachen!“
Statist aufgebracht: „Das ist eine Tragödie!“
Regisseur: „Sie sagen es!“
In der Finsternis wird Licht erkennbar. Das beängstigende Schwarz vor meinen Augen vervollständigt sich zu einem Bild, als wir langsamer werden. Ein Ruck und dann Stillstand. „Nächster Halt – Endstation“, ertönte es aus den Lautsprechern.
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