Barfuß
Es war später Sommer, vielleicht auch schon Herbst. Durch mein offenes Fenster konnte ich Zirpen hören und ein leichter Wind wehte mir mein pinkes Nachthemd um meine Beine. Ich konnte das Salz in der Luft schmecken, während ich auf die Sonne blickte. Ich hatte die Sonne noch nie verstanden. Wie konnte ich sie sehen, wenn sie doch so weit weg war? Barfuß lief ich die Treppen hinunter, in der Hoffnung, nicht auf meinen Vater zu treffen. Er lag auf der Couch. So leise wie möglich tapste ich in die Küche und aß das Wenige, das ich fand. Am Weg zurück blieb ich vor meinem Vater stehen. Ich blickte ihm in die halbgeöffneten Augen und zum ersten Mal spürte ich ein heißes Brennen in meiner Brust. Ich zwang mich, meinen Blick von seinem kahlen Gesicht abzuwenden und stieg, bedacht, keine der Flaschen umzuwerfen, die Treppen hinauf.
Es war um Ostern herum, der Osterhase hatte mir Schokolade gebracht. Ich saß auf meinem Bett, meine Arme um mich geschlungen. Eine Träne tropfte auf meine Bettdecke, die mit den Prinzessinnen darauf. Nach einer Weile stand ich auf und trat vor den kleinen ovalen Spiegel in meinem Zimmer. Das Haus war jetzt sehr still, ich hörte nur das leise Surren der Heizung und meinen schnellen Herzschlag. Ich zwang mich, mich selbst im Spiegel zu betrachten, meine Wange immer noch rot und pochend, die Blutflecken an meinem Kleid unangenehm feucht. Ich fand meinen eigenen Blick im Spiegel und zum ersten Mal konnte ich in meinen Augen anstatt Trauer und Selbstmitleid Wut erkennen.
Es war einer der ersten warmen Frühlingsnächte, ich konnte die Vögel noch zwitschern hören. Ich stand barfuß im Gras und hielt meinen Stoffhasen, den, den Oma mir geschenkt hatte, fest in meiner linken Hand. Vielleicht war es auch die rechte. Der warme Geruch von Rauch umhüllte mich, langsam wurde mir schwindelig. Ich trat zwei große Schritte zurück und blickt auf das in Flammen aufgehende Haus vor mir. Sogar unser Kirschbaum war schon zur Hälfte abgebrannt. Seine Kirschen waren immer bitter gewesen. Seltsamerweise fühlte ich, zusehend wie die Flammen tobten, nicht den kleinsten Anflug von Angst. Mit dem Hasen in einer, dem Feuerzeug in der anderen Hand, trat ich einen weiteren Schritt rückwärts. Für einen Augenblick fühlte ich nichts als Frieden.
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