Befreiung
Schweißperlen begannen sich auf meiner Stirn zu bilden. Angestrengt kniff ich die Augen zusammen. Viel länger würde ich mich nicht mehr halten können. Hilfesuchend schielte ich zu der mysteriösen, in einen großen, ihr Gesicht verdeckenden Schleier gehüllten Gestalt vor mir, die nur wenige Meter von mir entfernt stand. Sie wirkte – im Gegensatz zu mir – sehr gelassen, was aber auch damit zu erklären wäre, dass sie nicht gerade von einer Klippe hing und um ihr Leben kämpfte.
Nach einer gefühlten Ewigkeit, nachdem ich vergeblich versucht hatte, die Gestalt mit meinen verzweifelten Blicken auf mich aufmerksam zu machen und sie sich noch immer kein bisschen rührte, rief ich, so laut es meine angespannte Stimme zuließ, schließlich: „Hey du, willst du mir nicht helfen? !“ Keine Antwort. Keine Reaktion. Tränen stiegen mir in die Augen. Meine Kräfte drohten mich langsam, aber sicher zu verlassen und ich wusste nicht, wie lange ich diese ungemütliche Lage noch ertragen konnte. Wie aus einer Trance erwacht, fing die mysteriöse Person auf einmal an, schnellen Schrittes auf mich zuzugehen, bis nur noch wenige Zentimeter zwischen den Füßen der Gestalt und meinen vor Anstrengung zitternden Händen waren. Sie kniete sich zu mir runter und für einen kurzen Moment sah ich ihre Augen im Licht aufblitzen. Mein Atem stockte. Diese Augen kamen mir so bekannt vor – und doch wusste ich nicht woher. Verwirrt blinzelte ich. Woher kenne ich diese Augen? Im nächsten Moment legte die Gestalt ihren Schleier ab und mein Herz blieb für eine sich wie ein Kaugummi elendig langziehende Sekunde stehen. Hämisch grinsten mich diese vertrauten Lippen an. Feixend flüsterte mir die schon so oft gehörte Stimme zu: „Na, was hast du jetzt wieder für eine Dummheit angestellt? Du kannst auch gar nichts richtig machen, oder?“ Mein Mund war staubtrocken. Ich schluckte. Kein Wort brachte ich über meine Lippen. Plötzlich holte die Person kräftig aus und schlug mit voller Gewalt auf meine zitternde, sich noch immer an dem Klippenvorsprung festklammernde, rechte Hand. Überrascht riss ich die Augenbrauen in die Höhe und konnte mich gerade noch mit der anderen vor dem Absturz bewahren.
Auf einmal überrollte mich eine Welle der Erkenntnis und tausend Gedanken begannen in meinem Kopf herumzutoben: „Warum tue ich mir das an? Ich habe Besseres verdient. Warum sollte ich mich nicht einmal etwas trauen?“ Ich schloss die Augen und atmete tief durch. Insgesamt waren es drei lange Atemzüge.
Eins.
„Glaub an dich!“.
Zwei.
„Vertrau dir!“.
Drei.
„Sei mutig!“.
Mit einem Mal schlug ich die Augen auf, ließ die Klippe los und sah, wie sich die Gestalt immer weiter von mir entfernte. Die unheimliche Gestalt, die genauso aussah wie ich. Exakt wie ich. Doch nun war ich frei. Frei von diesem Teil von mir. Frei von meiner eigenen Angst, meinen Selbstzweifeln, meinen schädlichen Gedanken. Ein Gefühl des Glücks durchströmte mich.
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