Bei Morgenrot wird Aria fallen
Bei Morgenrot des nächsten Tages wird die Stadt fallen. Was man dagegen tun kann? Nichts. Aria war schon immer eine kleine, vernachlässigte Stadt – und doch die Wiege des Aria-Volkes, das schon vergessen hat, woher es stammt. Die Arias könnten längst auf der anderen Seite stehen – jener Seite, die sich mit dem Schönen befasst: teurer, schicker Kleidung in der Farbe Thunderstorm. Die gegnerische Seite sind die Felder. . . die Felder, von denen nun mehr Feuer wachsen wird. Sie denken, sie erhalten violett-blaue Blumen zur Herstellung königlicher Kleider, oder im anderen Fall das Geheimnis dieser Herstellung. Doch sie werden rote Flammenblüten bekommen, das verstehen sie alle nicht. Nur die Menschen der Stadt Aria merken es. Die, die ohne Wahl fallen werden. Die, die keiner Seite angehören. Ein strategischer Punkt, für den gekämpft wird. Unter jenen, die diesen Untergang kommen sehen, ist auch eine: Calathiel. Morgen ist es soweit, an einem Samstag, steht bei ihr im Kalender. An einem Samstag, an dem sie oft bei ihrem kranken Mütterchen gewesen ist, in der Metropolis von Nuvrath, der Herkunft Thunderstorms. Diesen Samstag wird sie aber bleiben. Sie wird hier bleiben, weil sie ihrer Familie helfen will. Calathiel hat außer ihrem Mütterchen keine blutgebundene Familie mehr – sie ist die einzige der Arias treu ihrer Geschichte. Doch schnell fand sie hier ihre neuen Brüder und Schwestern. Schwesterchen Mariia kam gestern – wie fast jeden Donnerstag, was in Calathiels Kalender aufgezeichnet ist. Sie redeten in Calathiels Hütte über dies und das. Bruder Soren besuchte sie meist am Montag, immer voller Freude. Diese Woche ist er jedoch krank – befallen von jener geheimnisvollen Schwäche, die so viele heimsucht, als würde der kommende Samstag ihnen bereits die Kraft rauben. Calathiel beschließt, am Freitagabend zu ihrem Mütterchen noch zu fahren, um sich zu verabschieden. Nuvrath begrüßt sie mit denselben hellen Lichtern, doch sie strahlen keine Wärme mehr aus. Den letzten Freitagabend verbringt sie beim Bett ihres kranken Mütterchens und schaut auf den Mond im Fenster. Wie schön ist er! Calathiel verbeugt sich vor dem Mond. Wie viele Mondaufgänge hat sie im Leben gesehen und denen keine Bedeutung gegeben? Wie viele Freitagabende verbrachte sie allein, anstatt zu ihrem Mütterchen zu fahren und ihr „danke“ zu sagen? Calathiel lächelt. Wie elegant tanzt das Ende, wie leise ist sein Abschied. . . wie charmant verläuft das Tempo ihrer Geschichte im letzten Kapitel! Man erkennt ein Geschenk erst, wenn es langsam und würdevoll von einem genommen wird.
Bei Morgenrot wird die Stadt fallen. Was man dagegen tun kann? Nichts. Denn was kann man tun, wenn eine Stadt sich ihrem Ende neigt? Die letzte Nacht verbringt Calathiel gemeinsam mit ihren Brüdern und Schwestern, rund um ein Lagerfeuer. Sie kann etwas dafür tun, dass es dem wirklichen Aria-Volk besser geht. Und sie kann dafür sorgen, dass sie alle gemeinsam dem letzten Fluss der Minuten in die Augen sehen.
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