Bei uns lassen wir das Fenster offen
"Es reicht mir, Elena, es REICHT! Du bist eine kleine, verlogene. . . " Sein Gesicht war hochrot und seine Stimme stockte. Er blickte nach rechts, zum Fenster, das weit offenstand. Draußen war es ruhig, und jedes Geräusch wurde vom Wind weitergetragen. Schnellen Schrittes ging er zum Fenster und machte anstalten, es zu schließen, aber ich stürmte aufgebracht zu ihm hin. "Lass es offen! ", schrie ich wütend und schlug seine Hände brutal weg. Schockiert trat er einen Schritt zurück. "In meiner Nachbarschaft lassen wir das Fenster offen! " Ich hatte ihn hysterisch angeschrien und atmete kurz durch, um mich zu beruhigen. Stille herrschte zwischen uns, und ich setzte fort: "Ich höre den alten Köhl Blumen gießen und mit sich selbst reden, weil kein Enkelkind ihn mehr besuchen will. Ich höre Kinder lachen oder Eltern schimpfen. Und manchmal höre ich den Schulz von nebenan, wie er seine Frau anschreit und ihr mit der Scheidung droht, weil sie letzte Woche mit einem anderen zusammen gestöhnt hat. Und wenn ich den kleinen Fridolin auf seinen winzigen Pfötchen vorbeitapsen höre, wenn sein Herrchen ihn Gassi führt, dann freue ich mich jedes Mal. Einmal hat sein Besitzer, ich weiß nicht mehr, wie er heißt, ihn getreten und geschimpft, dann hat der Fridolin aufgejault und ich konnte das die ganze Woche nicht vergessen. Ach ja, und am Freitagabend treffen sich die Roths und die Herrmanns, saufen bis Mitternacht und reden daüber, dass man die Flüchtlinge dorthin schicken muss, wo sie hingehören, nämlich in ein KZ in Traiskirchen. Und am nächsten Tag grüßen wir uns alle und tun schamlos, als hätten wir nichts gehört, obwohl es durch die ganze Gasse getönt hatte. Aber wenn wir die Fenster nicht offengelassen hätten, dann würden wir uns auch nicht grüßen und uns nicht kennen. " Mit einer ruhigen Bestimmtheit trat ich direkt vor ihn und sagte: "Also wenn es irgendetwas gibt, dass du mir nicht vor offenem Fenster sagen kannst, dann kannst du gleich gehen. " Er antwortete lange nicht, sondern blickte mich nur fassungslos an. Dann begann er aus dem Nichts heraus zu kichern. "Ach Elena. Wäre das nicht wunderschön, wenn wir alle unsere Fenster geöffnet haben könnten? Unsere Fehler offenzulegen, sodass jeder uns versteht und akzeptiert? " Er seufzte, fast melancholisch. "Wir würden taub werden von dem Lärm, der uns aus jedem Fenster entgegenschallt. Also, können wir das überhaupt noch? Das Fenster offenlassen? " Ich antwortete nichts und er schloss es.
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