Bevor du gehst
„Der Sultan aber sprach…, sprach…“ Doch weiter konnte er jetzt nicht mehr lesen. Denn nun begannen die Buchstaben im Schatten seiner schweren Lider den Seiten gänzlich zu entgleiten und vor ihm die Aussicht auf eine neue Landschaft auszubreiten, aus deren sanft geschwungenen Sanddünen ein prächtiger Palast herausragte. Und dort, auf dem Balkon stand der Sultan und winkte ihm zu, bis er durch die heiseren Töne einer Klingel plötzlich erschreckt hinter einem schwarzen Vorhang verschwand, und mit ihm der ganze Palast innerhalb des einen Augenblicks, in dem er seine Augen allmählich wieder öffnete.
Verwirrt streifte sein Blick in dem inzwischen nur mehr vom Licht der Leselampe noch schwach erhellten Raum umher und fiel dabei auf das aufgeschlagene Buch in seiner Hand.
Er war doch tatsächlich, als er seinem Sohn aus den Geschichten aus 1001 Nacht vorgelesen hatte, mit ihm auf der Couch eingeschlafen und durch die schiefen Töne der Türklingel eben erst wieder erwacht; während Jonas selbst jetzt, wie ihn sein Vater behutsam auf seinen Schoß zog und sich mit ihm im Arm letztlich leise seufzend von der Couch erhob, aus seinen Träumen noch immer nicht aufwachen zu wollen schien.
Aber es half nichts. Er musste. Immerhin wartete seine Mutter vermutlich bereits ungeduldig vor der Wohnungstür auf ihn. Nur schlief Jonas nach wie vor so tief, dass ihm wohl nichts anderes übrigblieb, als den kleinen Mann zu Erika zu tragen, auch wenn ihm durch die harten Kanten der Couch bei jedem Schritt wieder dieser stechend kalte Schmerz die Wirbelsäule hinabfuhr und ihn am Ende des Flurs nun beinahe lähmte.
Noch nie war ihm der Weg zur Tür dermaßen lang erschienen. Und doch, kaum dass er Jonas an deren Schwelle Erika übergab und für einen kurzen Augenblick noch sah, wie Jonas, als hätte er geahnt, dass es Zeit für ihren Abschied war, ihm im Schlaf noch einmal selig zulächelte, bevor er mit Erika beim nächsten Wimpernschlag seinem Sichtfeld entschwunden war; da wünschte er sich nichts mehr, als dass der Weg nur länger gewesen, nein, dass die Zeit gleich stehengeblieben wäre und er sie zurück auf ihren Anfang drehen könnte – auf den Moment, in dem Erika noch mit ihm auf der Couch lag, Jonas vor ihnen spielte und sie noch nicht vorübergehend getrennt waren.
Er hätte ihr damals einfach nicht vorwerfen dürfen, dass sie ihre Kaffeetasse auf dem Couchtisch so abgestellt hatte, dass Jonas sie hatte umstoßen und dadurch Kaffee über seine antiquarischen Bücher hatte verschütten können. Schließlich hatten sie beide in diesem Moment nicht aufgepasst und überhaupt hätte er diese Unikate vielleicht auch nicht gerade in Jonas Nähe ablegen sollen, zumal sie nun einmal unersetzbar waren. Aber deshalb bedeuteten sie ihm doch nicht mehr als Jonas oder Erika. Im Gegenteil, wie sehr liebte er nur seinen Sohn. Und wie sehr liebte er bloß Erika, die er…
Doch jetzt riss ihn ein schrilles Klirren aus dem Schlaf:
Vor ihm stand Jonas, mit einer zerbrochenen Tasse in der Hand, und in seinem Arm lag Erika.
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