Bis dass der Tod uns scheidet
Sie rannte. Normalerweise lief sie nie so schnell. Aber heute war kein gewöhnlicher Tag. Der Schweiß und die Tränen rollten von ihrem Gesicht herunter, durchnässten ihr rotes Kleid. Immer noch hörte sie die Stimmen hinter sich: , , Schlampe! " , , Miststück! ". Als sie an dem braunen Bänkchen, das mitten im Tannenwald stand, vorbeikam, riss sie ihr Armband mit zitternden Händen herunter. Sie warf es achtlos auf den sumpfigen Waldboden. Ihre Füße versanken im Schlamm, aber dennoch lief sie weiter. Es war still. Ein paar Vögel sangen, aber sonst geschah in diesem Wald nichts. Trotzdem konnte sie die Stimmen hören. Ihre Stimmen. , , Du Schlampe". Eine Endlosschleife. - Einbildung?
Sie war anders. Immer schon. Mit ihrem Faible für Kunst und den Büchern, die sie las. Keine Frage, sie war auch hübsch. Und vielleicht wurde sie gerade deswegen zum Opfer. Eifersucht konnte der Grund sein. Neid. Sicher war aber, dass die Clique, die früher ihre Freunde waren, sie verfolgte. Oft in einen traumlosen Schlaf. Heute durch die Wälder.
, , Immer noch Stimmen. Sie kommen näher. Keine Einbildung. Tatsache", dachte sie sich. Sie hörte ihren eigenen Namen.
, , Amelie". Die Rufe beängstigten sie. Der ironische Klang dieses Namens. Sie musste schneller rennnen. Weiter weg. Nie wieder zurück.
, , Amelie, wo bleibt denn unser kleines Miststück? "
- die süffisante Stimme wurde mit Ende des Satzes immer zorniger, was das Mädchen dazu antrieb, schneller zu laufen. Ihre Beine spürte sie ohnehin nicht mehr. Sie waren ausgelaugt, tot. Dann, endlich kam sie zu dem Platz, wo sie hinwollte.
Alles um sie wurde ruhiger. Sie selbst wurde ruhiger. Es war, als wäre alles, was passiert ist, nicht mehr wichtig. Sie war frei. Früher war sie mit ihrem Vater immer hier spazieren gewesen, hatte auf verrostetes Eisen geblickt, wenn sie hinunter geschaut hatte. Sie hatte Blumen gepflückt. Aber er starb. Krebs. Immer noch war das ihr Lieblingsplatz. Kein Ort auf der Welt könnte schöner für sie sein. Sie setzte sich. Berührte die Gleise mit ihren kalten Fingern. Soweit sie wusste, war die Zugstrecke vor einigen Jahren stillgelegt worden. Nichts konnte ihr mehr etwas anhaben. Hier war sie sicher. Sicher vor den Mädchen. Auch wenn die Stimmen immer näher kamen. Ein Geräusch übertönte alles. Es wurde lauter, war beruhigend für sie. Wie früher.
Die Mädchen kamen immer näher. Sahen sie. Taten nichts. Unfähig dazu, weiterzugehen. Vielleicht wurde es ihnen erst jetzt klar.
Er kam. Sie sah ihn. Augen aufgerissen. Erschrocken. Sie kann den heranrollenden Zug sehen. Hören. Sie Steht auf. Geschafft - Überlebt!
Stolpert.
Ja, vielleicht wurde es ihnen erst jetzt klar. Jetzt als es zu spät war. Viel zu spät.
Blut tropft. Nur die rote Flüssigkeit, so rot wie ihr Kleid. Sonst war da nichts mehr.
Hals über Kopf ins Verderben. Hals über Kopf in den Tod. Hals über Kopf - zurück zu ihrem Vater.
Und übrig blieb nur ein Armband, auf dem , , Beste Freunde für immer" geschrieben stand.
Bis dass der Tod uns scheidet.
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