Bis zum Ende
Es ist unerträglich. Meine Augen sind rot und verheult. Ich habe daher Kopfweh und zittere am ganzen Körper. Ich habe so Angst, dass der Zeitpunkt, vor dem wir uns schon so lange gefürchtet haben, nun da ist. Er liegt auf der Intensivstation, wo ich von außen durch ein Fenster auf sein Bett sehe. Er ist an einem Beatmungsgerät angeschlossen und liegt im künstlichen Koma. Dieser Anblick bringt mich erneut zum Weinen, während ich meine Mutter spüre, die mich von hinten fest in den Arm nimmt. Ich fühle eine Träne meine Schulter hinunterfließen und wische sie mit meiner Hand weg. Anschließend drehe ich mich um und nehme meine Mutter in den Arm. Wir beide stürzen auf den Boden, Arm in Arm, und weinen. „Wir schaffen das! Er wird endlich erlöst. Der ganze Schmerz, den dein Opa hat, wird sich von ihm lösen. Er wird über eine Brücke in den Himmel hinaufsteigen und kein Leid mehr ertragen müssen“, sagt mir meine Mama mit tränenerstickter Stimme. Er war immer für mich da. Er holte mich von der Volksschule ab und brachte mir Kekse mit, die ich immer mit Eifer gegessen habe. Doch nach einiger Zeit, als ich schon eine große Gymnasiastin war, wurde es immer härter für ihn. Er ging mit einem Rollator durch die Wohnung, da er es ohne nicht mehr schaffte. Jedes Mal, wenn ich mich von meinen Großeltern verabschiedete, sagte ich, dass ich sie mehr als alles andere auf dieser Welt liebe, und ein „Bis nächstes Mal“ flüsterte. Dieses „Bis nächstes Mal“ machte mir immer Hoffnung, dass der Zeitpunkt, vor dem wir uns schon so lange fürchteten, nicht kommt. Doch diesmal war alles anders, nachdem ich von dem kritischen Zustand meins Opas erfuhr.
Also. Da sitze ich, mit meiner weinenden Mutter, und denke über mein Leben mit ihm nach. Es kommen Dinge, an die ich mich so lange nicht mehr erinnert habe. Es war so verdammt unerträglich. Ich beschließe aufzustehen und mich anzuziehen. Anzuziehen, im Sinne von Sicherheitskleidung. Eine Schürze, Handschuhe, eine Haube und einen Mundschutz. Ich lege meine Hand auf die Türschnalle und gehe mit meiner Mama in den Raum. Ich höre das Piepsen der Geräte, mit welchen der Blutdruck, der Puls und die Atemzüge angezeigt werden. Die Werte sinken von Sekunde zu Sekunde. Weinend gehe ich zu ihm und nehme seine Hand. Der Blutdruck erhöht sich für einen kurzen Moment. Leider nur für einen kurzen. Als ich bemerke, dass die Werte rasant fallen, habe ich vor, ihm noch alles zu sagen, wofür ich ihn danken möchte. Schluchzend danke ich ihm für alles, was er für mich getan hat. Dass es keinen besseren Großvater hätte geben können. Dass ich ihn liebe und er immer in meinem Herzen bleiben wird. Für immer. Und, als hätte er extra auf meine Worte gewartet, verringern sich die Werte blitzschnell, während ich noch immer seine Hand halte. Statt Zahlen sehe ich nur mehr Nullwerte und Fragezeichen, bevor ein langes Piepsen ertönt. Ich bekomme kaum Luft vor Weinen, aber nun hat er es endlich über die Brücke geschafft und muss kein Leid mehr ertragen.
Wir danken unseren Unterstützern
Mit Unterstützung folgender Wiener Bezirke:
Für Sponsoringanfragen wenden Sie sich bitte an Margit Riepl unter margit.riepl@gmx.at
Wenn Sie "Texte. Preis für junge Literatur" unterstützen möchten, spenden Sie bitte auf folgendes Konto:
Literarische Bühnen Wien, Erste Bank IBAN: AT402011182818710800, SWIFT: GIBAATWWXXX
