Bis zum Sonnenuntergang
Fußstapfen. Danach ein leises Niessen. Wieder Fußstapfen. Der kleiner Junge schlich durch sein Elternhaus. Auf der Suche nach etwas. Er musste sich die Zeit vertreiben, denn die Aufregung vor dem nächsten Tag war so groß, dass er nicht schlafen konnte. Er schaltete das Leselämpchen ein. Das Zimmer war karg und durch das kleine Lämpchen schon fast ausgeleuchtet. Auf dem Tisch lag ein dickes Buch, das seiner Mutter gehörte. „Die Bibel“ las Hans leise vor. Seine Mutter las oft darin und das verrieten auch die Gebrauchsspuren auf dem Einband. Hans suchte sich weitere kleine Beschäftigungen und so verging die Nacht. Die Mutter und die zwei Mädchen fanden ihn am nächsten Tag schlafend auf dem Sofa. Als sich die Mutter laut räusperte, schrak der Junge auf. Sie wollte sein Verhalten tadeln, aber ihr fiel ein, was heute für ein besonderer Tag war, darum beließ sie es bei einem Kopfschütteln. Die nächsten Stunden vergingen nur sehr langsam und der kleine Junge ging aufgeregt herum, bis ihn seine Mutter abfing und ihm riet, dass er doch mal rausgehen sollte. Da der Junge überhaupt nicht wusste, was er mit der Zeit anfangen sollte, ging er in den kleinen Wald hinter dem Haus. Sofort kamen in ihm wieder die Erinnerungen hoch. Wie er mit seinem Vater oft hierher ging. Er war Hans großes Vorbild. Seine Mutter war hingegen immerzu beschäftigt und kümmerte sich nur um das allgemeine Wohlergehen. Einige Stunden vergingen, als er in Erinnerungen schwelgte. „Nur noch wenige Stunden“, dachte er sich. „Nur noch wenige Stunden bis zum Sonnenuntergang.“ Zu Mittag ging er zurück ins Haus. Ihn erwartete ein karges Mittagessen. Er versuchte, langsam zu essen, sodass er weniger Zeit ohne Beschäftigung warten musste. Jedoch war der Hunger so groß, dass die Suppe im Nullkommanichts im Mund verschwand. „Nur noch wenige Stunden“, dachte er sich erneut. Nach der Mahlzeit ging er wieder zurück in den Wald. Die Zeit verging schleppend, aber es wurde langsam dämmrig. Als er nach Hause kam saßen die Mutter und die zwei Schwestern schon am Tisch und starrten gespannt auf die Haustüre. Er machte es ihnen gleich. „Bald kommt er. Bald kommt er durch die Tür und dann sind wir wieder vereint.“, dachte sich der Junge. Bald war es soweit. „Spätestens bei Sonnenuntergang bin ich zu Hause“, schrieb er in seinem letzten Brief. Die Sonne ging allmählich unter. Es wurde stockdunkel. Man konnte seine eigene Hand schon fast nicht mehr sehen. Sie warteten. Eine Viertelstunde verging. Eine halbe Stunde. Eine ganze Stunde. Sie warteten. Dann stand die Mutter langsam auf und ging ins Schlafzimmer. Ihr Weinen drang bis ins Wohnzimmer und die Eingangstür blieb die ganze Nacht geschlossen. Am nächsten Morgen ging die Mutter in höchster Trauer in die Kirche. Sie kniete sich vor den Altar, schloss ihre Augen und fragte gen Himmel: „Lieber Gott, wieso trifft uns dieses Schicksal? Sieh uns an! Wie sollen wir das schaffen? Können wir noch?“
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