Blaue Rosen
„Lou, es ist schon spät.“ Er durchquerte das Zimmer, wich den leeren Verpackungen, abgestellten Wassergläsern und nie beendeten Büchern aus, öffnete den schweren Vorhang einen Spalt, um eine Schnur aus goldenem Sonnenlicht in die Finsternis zu spinnen.
„Deine Pflanzen sterben alle.“ Er sah sie zum ersten Mal an, nicht die Pflanzen in den Blumentöpfen, sondern Lou, eine erbärmliche Gestalt in zerknittertem Pyjama, in dem weichen Lesesessel zusammengerollt. „Du musst wieder rausgehen.“
Sie musste… rausgehen, weitergehen, aufstehen. Abschließen.
„Tempo, Tempo!“, das hatte ihre Chefin immer gesagt, wenn sie die Blumen zurechtgeschnitten hatte. „Wir haben nicht alle Zeit der Welt.“ Sie sollte einfach weitermachen, leben, trauern, weiterleben, aber die Toten waren nicht so einfach zu vergessen wie zu begraben. Alle sagten: „Du hast nur ein Leben. Sei froh, dass du so viel hast.“
Aber sie kam nicht weg.
„Sind das die Rosen, die ich dir gebracht habe?“ Er nickte in Richtung der Blumen, die hinter dem Vorhang am Fensterbrett standen, die einzigen, die die Sonnenstrahlen einfangen durften, die nicht in der Dunkelheit mit ihr eingeschlossen waren. Einst weiß, durchzogen nun Adern von Cyanblau die Blütenblätter.
„Du weißt, dass er sie so wollte.“ Lous Stimme, ein Windhauch. Sie wollte nicht mit ihm streiten. Er hatte so viel für sie getan. Er hatte ihr Essen gemacht. Die Wohnung geputzt. Er war immer da gewesen, falls sie hinauskommen wollte. Sie war nicht hinausgekommen.
„Du musst in die Gegenwart zurückkommen.“ Er verstand es nicht. Er verstand nicht, wie der Junge mit den Sommersprossen in dem Blumenladen aufgetaucht war und aus dem Nichts nach blauen Rosen gefragt hatte. „Das haben wir hier nicht“, hatte Lou erklärt.
„Aber könnt ihr sie beschaffen? Es wäre mir wichtig.“
Da war ihr die Idee gekommen, mit dem gefärbten Wasser, das die Schnittblumen aufnehmen konnten. Sie hatte ihm geantwortet, er solle in zwei Tagen wiederkommen.
Er hatte den Laden mit einem verträumten Lächeln auf den Lippen verlassen und war nie wiedergekommen.
Nirgendwohin.
Fahrradunfall. Ein Autofahrer, zu hohes Tempo.
Blaue Rosen, die nie abgeholt werden konnten.
„Nimm deine Tabletten, Lou. Dann wird es besser.“ Er, in ihrem Zimmer, der Realität.
Tempo, Tempo, Tempo.
Sie wollte nur innehalten. Für wen waren sie bestimmt gewesen, die blauen Rosen und das verträumte Lächeln?
„Du denkst an den Unfall von damals.“ Er kam näher, setzte sich zu ihr ans Bett, nahm ihr Gesicht in seine knochigen Hände. „Sie haben den Falschen für tot gehalten.“
Der Spinnenfaden aus Sonnenlicht zog sich durch sein Gesicht, verlor sich in den Falten der Haut.
„Aber ich bin zurückgekommen. Ich habe sie dir geschenkt.“
Versteckt in dem altersgeprägten Gesicht, unter seinen verträumten Augen, fand sie sie, die lachenden Sommersprossen.
„Sie waren für dich, Lou, die blauen Rosen.“
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