Blinde Wutvon Elsa Kühnel
Wut. Alles, was sie fühlte war Wut. Sie konnte spüren, wie die Wut in jeder einzelnen Zelle ihres Körper überhandnahm und langsam die Kontrolle gewann. Ohne noch einen weiteren Augenblick zu warten, stürzte sie aus dem Gebäude. Wie von selbst trugen sie ihre Beine zu ihrem Fahrrad, das in der Einfahrt stand und schon mit einer dünnen Schicht Schnee bedeckt war. Sie sprang auf, bog auf die Bundesstraße und fing an zu treten, ohne auch nur ein einziges Mal zurückzuschauen.
Die Wut trieb sie an. Wie eine innere Stimme sprach sie zu ihr und ließ sie immer schneller und schneller treten. Jegliches Zeitgefühl war ihr verloren gegangen, als ihre Beine schon schmerzten und ihre Lunge brannte. Sie atmete schwer, verlor jedoch nicht das geringste Tempo. Wie von alleine traten ihre Beine weiter in die Pedale und sie raste mit hoher Geschwindigkeit durch den Schnee, der in dicken Flocken vom Himmel fiel.
Ihre Hände waren schon ganz taub und ihre Ohren taten weh, so kalt war es. Ihre Kleidung war triefend nass vom Schnee, der darauf geschmolzen war, und sie konnte kaum etwas sehen, außer die weißen Flocken, die tanzend vom Himmel fielen. Trotzdem fuhr sie weiter.
Die Wut schrie ihr ins Ohr. Schneller, schneller! Plötzlich spürte sie die Tränen, die sich leise in ihre Augen geschlichen hatten. Ohne dass sie es wollte, waren sie auf einmal da, und auch wenn sie die Wahrheit kannte, schob sie die Schuld auf den Wind, der ihr den Schnee in die Augen blies.
Mit jedem Meter, den sie sich von der Stadt, die sie ihr Zuhause genannt hatte, entfernte, wurden ihre Beine schwerer und ihre Muskeln erschöpfter. Mit jeder Minute, die sie auf ihrem Rad weiterfuhr, wurde der Gedanke immer präsenter, aufzugeben, stehenzubleiben, abzusteigen. Mit jedem Atemzug wurde die Wut leiser und leiser. Sie flüsterte nur noch einzelne Wörter in ihr Ohr, die sie fast nicht mehr verstehen konnte. Immer wieder versuchte die Wut erneut laut zu werden, doch sie klang nach und nach ab. Sie wurde kleiner und kleiner, bis sie nur noch ein kleiner Punkt im hintersten Teil ihres Kopfes war.
Nun war es nicht mehr die Wut, die sie drängte, weiterzufahren. Sie war wieder Herrin ihrer selbst und fing an, langsamer zu fahren. Sie trat immer leichter in die Pedale, verlor an Geschwindigkeit, bis ihre Beine schließlich nur noch an beiden Seiten des Fahrrads hinabhingen.
Endlich stieg sie ab. Sie konnte ihre Gliedmaßen beinahe nicht mehr spüren und nur noch mit letzter Mühe schaffte sie es, sich keuchend an den Rand der Straße zu setzen, um nicht zusammenzubrechen.
Sie beruhigte sich ein wenig. Alles lag still vor ihr. So still, wie es nur sein konnte, wenn der erste Schnee im Jahr gefallen war. So still, dass sie nur ihren Atem und das Klappern ihrer Zähne hören konnte.
Die Wut war weg. Ihre Gedanken waren wieder klar, befreit von dem roten Schleier, der sich über sie gelegt hatte. Sie spürte wie eine andere Stimme langsam in ihr hochkroch. Die Vernunft.
Und so kam es, dass sie sich mühsam aufrappelte, zu ihrem Fahrrad zurückging und wieder aufstieg. Sie begann zu treten und fuhr langsam zurück, in die Stadt, die sie ihr Zuhause nannte, denn sie würde immer ein Teil davon bleiben.
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