Blätterhaufen
Ich stehe nun schon seit zwei Stunden auf der Straße und mache immer wieder dieselbe Bewegung mit dem Rechen. Ein Blätterhaufen nach dem anderen bildet sich. Ich lege sie in meinen Wagen, nur um gleich die nächsten zusammenzukehren. Manchmal geht eine Person vorbei und wirbelt alle Blätter auf. Dann verfallen sie wieder ins Chaos und es wird schwieriger aufzuräumen. Erst wenn sie im Wagen sind, kann ich wieder denken, kann ich wieder leben. Doch so schwer es auch ist, ich muss weiter machen, denn die Straße scheint kein Ende zu haben.
„Schau mal Opa!“, rief ein kleines Mädchen von der Brüstung eines alten Kutters und zeigte begeistert auf eine Möwe, die an ihnen vorbeiflog. Der alte Mann sah Charly an und lächelte ihr sanft zu. Er liebte sie von ganzem Herzen. Sie war sein ein und alles.
Charly packte die Reling fester, als ein Ruck durch den kleinen Kutter ging und der Motor gestartet wurde. Fasziniert blickte sie auf das Wasser unter ihr. Es bildete immer neue Schaumkronen und ab und zu flogen ihr ein paar Spritzer in das kleine gerötete Gesicht.
Irgendwann packte Charly, den obersten Metallstab der Reling. Er beobachtete sie und merkte erst jetzt, wie unsicher die Stelle hier war. Anstelle der restlichen Metallstangen flackerte ein gerissenes Absperrband im Wind.
„Opa, schau mal, was ich kann!“, rief Charly lachend, machte einen Schritt nach vorne und schwang jetzt vor und zurück. Dann ließ sie los. Sie fiel geradewegs in das tosende Wasser unter ihnen. „Charly! !“, rief er atemlos. Er hatte um einen Augenblick zu spät seine Hand nach ihr ausgestreckt. Die starke Strömung hatte Charly bereits erfasst und trieb sie immer weiter vom Boot weg.
Als der alte Mann realisierte was passiert war, zögerte er keinen Moment lang und sprang ihr hinterher. Als er ins Wasser eintauchte umschloss ihn die eisige Kälte sofort und fuhr ihm bis in die Knochen. Seine Kleidung sog sich mit Wasser voll und zog ihn nach unten. Jetzt hatte die Strömung auch ihn erfasst und nahm ihn mit sich. Durch die Wellen sah er immer wieder Charlys rote Mütze aufblitzen. Als er nach den nicht enden wollenden Metern endlich bei ihr ankam, packte er sie und zog sie über die Wasseroberfläche, damit sie atmen konnte. Zahllose Hände streckten sich ihm vom Kutter entgegen und zogen erst Charly und dann ihn aus dem Wasser.
Erst am Schiff traf ihn die Erkenntnis. Kalt und bewegungslos lag das kleine Mädchen in seinen Armen. Sie hatte die Augen geschlossen und alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen.
Charly war tot.
Jetzt geht wieder ein Mensch vorbei. Mit dem Wind, der beim Gehen entsteht, wirbeln die Blätter wild durcheinander. So fühlt es sich an, wenn sich der Schmerz ausbreitet. Ich kann nicht mehr denken und erst wenn ich es geschafft habe, den Schmerz wieder einzusperren, kann ich denken, kann ich leben. Er ist aber immer noch da und wird nie weg gehen. Doch ich muss weiter machen, denn die Straße scheint kein Ende zu haben.
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