Bunte Wunderwelten
Ich schlage meine Augen auf und starre in die Dunkelheit. Augen zu, Augen auf. Es bleibt dunkel. Die dicken, schweren Vorhänge vor dem kleinen Fenster sind zugezogen und versperren dem schwachen Winterlicht Zutritt zu meinem Zimmer. Ich weiß nicht, wie viel Uhr es ist, mein Handy liegt auf dem grauen Nachtkasten neben meinem Einzelbett. Also liege ich da, umgeben von dieser Dunkelheit und einer unheimlichen Stille. Langsam trifft der Morgen ein, streckt sich gemächlich aus und verdrängt die Ruhe. Ich kann hören, wie ein paar Autos an meinem kleinen Fenster vorbei fahren. Jemand schaltet die Dusche an und in der Nachbarküche tönt das Radio. In dem Kleiderschrank wartet meine graue Kleidung, glatt gebügelt und perfekt. Bald ist es soweit, ich zähle jetzt die Sekunden, wie an jedem stillen Morgen. Unwillkürlich zucke ich zusammen, als der Wecker die Ruhe zerstört.
Das Leben ist angenehm langweilig. Schon morgens macht sich die Langweile breit, mit demselben schrillen Wecker, denselben eingeweichten Cornflakes und denselben farblosen Leuten, die Tag ein Tag aus mit derselben stickigen Straßenbahn fahren. Mittags dehnt sich die Langweile weiter aus und zieht sich mit klebrigen, trägen Fäden durch den Tag. Abends erreicht sie ihren Höhepunkt, als die Langweile sich vor der Langweile des langweiligen nächsten Tages langweilt.
Ich träume gerne an besonders langweiligen Tagen, träume von bunten Welten, Abenteuern und Mut zur Veränderung. Es ist so wundervoll, sich vorzustellen, was sein könnte, wenn man nicht wahrhaben will, was ist.
Heute Morgen ist etwas anders. Auf dem Platz in der Straßenbahn, der üblicherweise dem alten Herrn mit seinem grauen Anzug gehört, sitzt ein Mädchen. Neugierig schaut sie sich um, mustert die Straßenbahn mit klugen Augen und fängt sich von den anderen Fahrgästen böse Blicke ein. Ein neues Gesicht kommt bei den Leuten nie gut an. Mit ihrer bunten, ausgefallenen Kleidung erinnert sie mich an eine meiner Traumfiguren. Trotz der Missgunst der anderen kann ich nicht anders, als sie heimlich zu bewundern. Als das Mädchen aussteigt, fällt etwas aus ihrem Rucksack, ein buntes Armband. Ich schaue mich verstohlen um und stecke es ein.
Die Langweile des Tages nimmt ihren Lauf. Nachts träume ich von meinen bunten Wunderwelten und als ich morgens die Augen in der stillen Dunkelheit aufschlage, weiß ich, was ich tun muss. Neben meiner grauen Kleidung wartet das farbenfrohe Armband auf mich. Ich stelle den schrillen Wecker aus, zögere kurz und ziehe es an. Das schmale Bändchen ist kaum bemerkbar an meinem Handgelenk, doch es ist ein Anfang. Ein winziger Funken Farbe in meiner grauen Welt.
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