Da Capo - Leben im Rückwärtsgang
Früher wurde mir in Filmen und Geschichten erzählt, dass das ganze Leben noch ein letztes Mal an einem vorbeizieht, wenn man stirbt. Die guten wie die schlechten Zeiten werden noch ein letztes Mal durchlebt. Doch was ich nicht erwartet hatte: Die Erinnerungen fangen bei den letzten Momenten an und enden bei den ersten. Zumindest war es bei mir so.
Als Erstes sah ich mich, wie ich in einem Krankenbett liege: bewusstlos, ruhig, unbeweglich. Mein Körper war bereits viel zu schwach, sodass es für mich unmöglich gewesen wäre, die Augen zu öffnen. Als nächstes sah ich den Sarg meiner Frau, die ein Jahr vor mir gestorben war. Die Erinnerungen an die schönen Ausflüge mit meinen vier Enkeln und meiner Enkelin, die sich immer gegenüber ihren Brüdern behaupten muss, damit sie auch mit ihr spielen. Der Tag, an dem ich in Pension ging, und meine Kollegen mir zuliebe ein Fest organisiert hatten. Als ich nach meinem Autounfall vier Wochen an mein Bett gefesselt war und ich mir beide Beine sowie einen Arm gebrochen hatte und ich mich wieder daran gewöhnen musste, zu gehen. Der Autounfall, als ich dachte, dass meine letzte Stunde geschlagen hätte und ich alle Geschehnisse in Zeitlupe mitbekommen hatte, während ich mich doppelt überschlug.
Hunderte Erinnerungen an meine zwei Kinder, die Zwillinge, wie sie mich besuchten und mir alle Details aus ihrem Leben erzählten, als sie ihren Abschluss an der Universität machten, wie sie sich immer wegen der kleinsten Vorkommnisse stritten und der schönste Moment meines Lebens, als ich die beiden das erste Mal in meinen Armen halten durfte. Ich sah den Tag, an dem ich Rosa den Heiratsantrag machte, obwohl mein Vater dagegen war, und wie überglücklich sie aussah, daran wie viel Spaß wir zusammen hatten und wie ich mich sofort in sie verliebt hatte, als ich sie das erste Mal in der Kirche gesehen hatte. Die Monate, in denen ich nur jede zweite Woche bei meinem Vater lebte, weil meine Eltern sich scheiden ließen. Doch ich wiederholte auch die Tage der Trauer, nachdem mein Bruder mit sechs Jahren an Krebs gestorben war, und den Moment, als ich noch ein letztes Mal mit ihm reden konnte, sowie jene, an denen wir stundenlang zusammen in der Sandkiste verbrachten. Und schlussendlich sah ich den Tag, an dem ich zum ersten Mal mit meiner Schultüte, die so groß war wie ich selbst, in die Schule ging und meine besten Freunde kennenlernte.
Nachdem mein ganzes Leben in nur wenigen Minuten an mir vorbeigezogen war, spürte ich, wie auch der letzte Atem aus meiner Lunge wich und die Geräte anfingen, bedenkliche Geräusche von sich zu geben.
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