Da sitzt ein Kind von Traurigkeit und ich kenne seine Eltern
Mit angewinkelten Beinen hock ich da. Gegenüber von mir kauert eine junge Frau und weint. Ihr Gesicht ist von all den Tränen aufgequollen, die Igelaugen noch kleiner als ohnehin schon. Aus der kleinen Entfernung, die zwischen uns liegt, mustere ich das Mädchen, beobachte wie sie sich über den gekrümmten Nasenrücken wischt und schnieft. Ich nenne das Mädchen Luisa und fange an ihr zuzuhören.
Luisa fühlt ganz viel. Seit neunzehn Jahren schaut sie dabei zu wie die Leben anderer funktionieren, während ihr eigenes mehr und mehr in Scherben zerbricht. Luisa albert gerne mit Freunden und bringt am liebsten Fremde zum Lachen. Im Spaß nennt sie sich gern ein Kind von Traurigkeit, aber eigentlich meint sie es so. Luisa redet nicht mehr ehrlich mit ihren Eltern, seit sie sechzehn ist, dafür spricht sie gerne mit Älteren und ist verliebt in die Idee von endlosem Glück. Seit sie fünfzehn ist, raucht sie wenn sie gestresst ist. Große, laute Räume überfordern Luisa seit sie siebzehn ist. Seit sie dreizehn ist, denkt Luisa über's Sterben nach.
Luisa tut sich schwer mit Routine, schwer damit, für sich selbst zu sorgen, schwer damit, Nein zu Rauschmitteln zu sagen. An manchen Tagen fällt Luisa das Essen schwer. Und zu weinen, weil sie nicht festlegen kann, was genau sie so schmerzt. Luisa weiß noch nicht, dass sie es in drei Wochen, in Anwesenheit einer guten Freundin, schaffen wird endlich bei einem Therapeuten anzurufen. Sie weiß noch nicht das sie schon vier Wochen darauf einen Platz bekommt. Anfängt aufzuarbeiten was kaputt gegangen, anfängt zu heilen. Sie weiß noch nicht, dass sie zwanzig werden und irgendwann aufhören wird, über's Sterben nachzudenken. Sie weiß noch nicht, dass gute Tage kommen, Tage voller Sonne und Licht, an denen Essen nichts außer Nährstoffe ist, an denen Zähneputzen leicht fällt, an denen Alkohol nichts als Genuss ist und gesamte Tage zu vergessen eine Ausnahme. Luisa wird aufhören sich selbst die Schuld für Andersartigkeit zu geben. Sie wird lernen mit ihrem Leid umzugehen. Luisa weiß noch nicht das sie wachsen wird und ich verzeih es dem Mädchen. Es schnieft immer noch und Tränen rollen weiter über seine Wangen. Sie ist ein Kind von Traurigkeit und wird es bleiben, denke ich. Luisa weiß, dass sie nicht eines Tages aufwachen und gesund sein wird. Das ihr Leid zwar nicht endet, sich dafür aber ändert. Unter den kullernden Augen ist es das Einzige, was sie bereits jetzt schon sehen kann.
Gegenüber von mir hockt eine junge Frau und weint. Ich bemerk die Tränen zu spät. Sie tropfen auf mein Schlüsselbein, auf meine Knie. Ich wische mir über den gekrümmten Nasenrücken und der Spiegel reflektiert wen, den ich nicht mehr richtig kenn. Das Licht fällt jetzt durch einen Spalt im Vorhang in das kleine Zimmer und die Sonne scheint - schreibe ich - weil es eine Floskel ist, mit der Romane beginnen. Ich beginne keinen Roman. Ich beginne Genesung.
Wir danken unseren Unterstützern
Mit Unterstützung folgender Wiener Bezirke:
Für Sponsoringanfragen wenden Sie sich bitte an Margit Riepl unter margit.riepl@gmx.at
Wenn Sie "Texte. Preis für junge Literatur" unterstützen möchten, spenden Sie bitte auf folgendes Konto:
Literarische Bühnen Wien, Erste Bank IBAN: AT402011182818710800, SWIFT: GIBAATWWXXX